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Irgendwann sind auch wir Schatten


Der Schatten meiner Familie auf der Eingangstür

Unser Architekt Herbert, der mit seinem Team Spezialist für alte Gemäuer ist, hat bestätigt, dass unser Haus in Paulisch sehr alt ist, wohl über 200 Jahre alt. Es war nicht als Bauernhaus erbaut worden, sondern als herrschaftliches Anwesen, zu dem es nichts Vergleichbares in der Region gibt. Wer die Bauherren waren und wann genau es entstand, müsste im Archiv in Wien ermittelt werden.


Aufgrund seines Alters ist das Landhaus stummer Zeuge zahlreicher historischer Ereignisse. Die Napoleonkriege dürften daran ebenso vorbei gezogen sein, wie die Armeen der ungarischen Revolution 1848, deren Scheitern ja in Șiria/Hellburg/Villagos nur ein paar Kilometer entfernt besiegelt worden war. Das Haus sah, wie die 13 Anführer und Generäle der mit Hilfe von russischen Truppen niedergeschlagenen Revolution zur Henkersmahlzeit gebracht wurden. Denn sie verbrachten in Paulisch die letzte Nacht vor ihrer Hinrichtung in der Arader Festung.


Der großen Pleitewelle am Ende des ersten Weltkriegs war es geschuldet, dass der Landsitz, damals schon in die Jahre gekommen, in Familienbesitz kam. Mein Urgroßvater kaufte das Anwesen dem Unternehmer Peter Doni ab, der in finanzielle Schwierigkeiten geraten war.


Generationen meiner Vorfahren haben dort gelebt und davor schon die Donis und viele andere unbekannte Menschen. Hinter den alten Mauern wurde gelitten, gehofft, geliebt und gehasst, es wurden Feste gefeiert und hart gearbeitet. In den hohen Zimmern, die wir heute bewohnen, wurde geheiratet, gezeugt, geboren und gestorben. Manchmal spreche ich mit den Geistern dieser Vergangenheit und den Seelen der Vorfahren.


Als wir in den Faschingsferien in Paulisch waren, geschah, was wir, denen bisher die Gnade der späten Geburt zuteil geworden war, nie für möglich gehalten hatten. Russland griff die Ukraine an und in dem Land das nur 300 km von dem Haus, das schon so viel gesehen hatte entfernt liegt, brach ein schrecklicher Krieg aus. Statt uns am Rosenmontag und Faschingsdienstag zu verkleiden und zu feiern, verfolgten wir aufgeregt die Nachrichten. Wir sahen Mütter und Kinder, die über die Grenze flohen und sich nur mit dem Nötigsten in Sicherheit brachten. Ich sprach mit meiner Nachbarin Anna-Maria darüber und sie sagte, dass sie, wie viele andere Menschen, ohne zu zögern Geflüchtete aufnehmen würde.


Nachts lag ich wach und versuchte mir im Dialog mit den Vorfahren die vergangenen Zeiten zu vergegenwärtigen. Mir, der Spätgeborenen war oft erzählt worden, dass das Haus, im Lauf des letzten Jahrhunderts, oft Schutz geboten hatte. So zum Beispiel dem Bruder meiner Großmutter, als Heimkehrer aus dem ersten Weltkrieg, der den Horror der Kampfhandlungen überlebt hatte und trotzdem nicht zu retten war. Nach Kriegsende im November 1918 war er zum Sterben heimgekehrt. Sein Tod verursachte bei seinen Lieben einen so großen Schmerz, dass meine Oma sich noch im hohen Alter an das Leid ihrer Mutter erinnern konnte. Ob es für sie ein Trost gewesen war, dass ihr Sohn sein Leben zu Hause und nicht im Schützengraben verlor?


Dann das große Leid nach dem zweiten Weltkrieg, als meine Großmutter mit ihren Kindern zu ihren Eltern zurück kehrte. In der Familie war meine verzweifelte Oma gut aufgehoben. Mein Großvater war nämlich in genau die vom Krieg verwüstete Gegend zum sogenannten Wiederaufbau deportiert worden, die heute wieder zerstört wird.


Als damals Frauen und Kinder der deutschen Minderheit im serbischen Teil des Banats verfolgt wurden, retteten sich einige von ihnen nach Paulisch. In unserem Haus fand eine alte Frau Unterschlupf in dem Zimmer, das seitdem ihr zum Gedenken das "Mari-Neni-Zimmer” genannt wurde. Im Saal, den wir das "große Zimmer" nennen und der ganz früher wohl Versammlungsraum gewesen war, fand nach dem zweiten Weltkrieg zeitweise ein jüdischer heimatlos gewordener Herr Schutz, bis er nach Israel auswandern konnte.


Während ich heuer in Paulisch zu Fasching, den wir nicht mehr feiern wollten, aus dem Fenster blickte, dachte ich: Was wäre, wenn Flüchtende aus der Ukraine die Landstraße entlang kommen würden? Wir würden sie selbstverständlich aufnehmen, so wie früher. Wir würden mit ihnen hoffen, bangen, Richtung Westen ziehen.


In unserem Haus in Paulisch stellte ich mir schon immer die Frage nach der eigenen Vergänglichkeit. Ich fühlte mich wie eine Besucherin in einem Heim, in dem schon viele andere Gäste waren und hoffentlich auch nach mir kommen werden.


Eines Tages werden auch wir uns in eine andere Welt verabschieden, gewiss. Seit den Zerstörungen in der Ukraine kommt eine akute Angst hinzu. Irgendwann sind auch wir Schatten, doch bis dahin wünschen wir uns und den nachfolgenden Generationen eine lebenswerte Zukunft. Dafür muss das Blutvergießen in der Ukraine so schnell wie möglich aufhören.


Schatten auf dem Gang

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