top of page

Eule mit Weile


ree

Es gibt Zufälle und Koinzidenzen, die sind so unglaublich und unwahrscheinlich, dass selbst die größte Fabulierlust und die wildeste Fantasie nicht mithalten kann. Ich möchte euch jetzt schnell von einem Erlebnis erzählen, das so einen bleibenden Eindruck und so intensive Gefühle bei mir hinterlassen hat, dass ich es noch lange, lange Besuchern am Kaminfeuer und Kindern vor dem Einschlafen erzählen werde. Eine Begebenheit, die ohne Übertreibung als magisch zu bezeichnen ist und ich hier so schnell wie möglich, gar atemlos festhalten möchte so lange der Zauber des ersten Eindrucks noch anhält. 

Ich kam diesmal mit einem blinden Passagier im Gepäck beziehungsweise auf dem Leib in Paulisch an. Eine Zecke hatte sich noch in München im Perlacher Forst in meinem Rücken festgebissen, als ich sie entdeckte und zu entfernen versuchte, blieb ein schwarzer Punkt zurück, laut Google die Beißwerkzeuge des Blutsaugers. Am nächsten Tag hatte sich der zunächst harmlose rote Fleck zu einer veritablen Beule entwickelt, die juckte und schmerzte, die vermeintlich harmlosen Saugrüssel fühlten sich an wie ein Stachel im Fleische, so dass ich genötigt war, in Arad einen Termin beim Arzt auszumachen.  

Doch nicht nicht von diesem Malheur möchte ich euch heute erzählen, obwohl es zugegebenermaßen belastete. Grübelnd und googelnd wurde mir klar, dass mit einem entzündeten Zeckenbiss nicht zu spaßen war. Um mich von diesem Kopfkino abzulenken, ließ ich meine Gedanken am Vorabend des Arztbesuchs zu einer Geschichte wandern, die ich vor vielen Jahren im Studium gehört hatte, als mein damaliger Professor für alte Geschichte Christian Meier in einer seiner Vorlesungen das antike Athen behandelte. Meier erzählte mit Vorliebe von Orest, einem Königssohn aus Sparta, der in Athen vor Gericht gelandet war, weil er seine Mutter Klytämnestra aus Rache getötet hatte. Er tat dies, weil die Mutter seinen Vater Agamemnon ermordet hatte, weil er wiederum das Leben ihrer gemeinsamenTochter, also Orests Schwester, für das Kriegsglück in Troja geopfert hatte. Ich weiß nicht, warum mir ausgerechnet diese Erinnerung aus dem Studium einfiel und es ging mir auch nicht um diese Spirale von Rache und Gewalt aus dem Mythos. Vielmehr erzählte ich Hans, und er ist mein Zeuge von der Göttin Athene, der Schutzpatronin Athens, die mit Schild und Speer gerüstet war und für das neue Recht und Gesetz des antiken Stadtstaates stand. Der Göttin als tierische Begleiterin zugeordnet war die Eule, die für die Tugenden Weisheit und Besonnenheit stand.

Wir saßen also im Haus zusammen, während draußen der ersehnte Sturm aufkam, der der sengenden Hitze der letzten Tage endlich ein Ende bereiten sollte. Seit Wochen hatte die Sonne unbarmherzig  heruntergebrannt und alles vertrocknet, was nicht bewässert oder gegossen worden war und es unmöglich machte, unsere Pläne zu verwirklichen. Die geplante Tour durch die Banater Hecke war bei Temperaturen um 40 Grad unmöglich geworden, das war uns schnell klar. Hans mag sich gewundert haben, warum mir gerade diese Geschichte eingefallen war. Vernebelte die Hitze das Kurzzeitgedächtnis und aktivierte das Langzeitgedächtnis? Mir kam es auch seltsam vor, doch die Erinnerung an das vor langer Zeit Gelernte tauchte so lebendig vor meinem inneren Auge auf, dass ich es teilen wollte. 

Athene, die Mutterlose, die dem Mythos nach nicht von einer Frau geboren, sondern dem Kopf ihres Vaters Zeus entsprungen war, sorgte dafür, dass der von den alten  Rachegöttinnen verfolgte und gepeinigte Orest freigesprochen wurde. Damit war die alte Ordnung der Blutrache beendet, fortan sollte in Athen nach Recht und Gesetz entschieden werden. Für Besonnenheit und Weisheit des Urteilsvermögens der Gerichtsurteile in der Stadt  stand auch wieder die Eule. Und von beidem gab es wohl reichlich, heißt es doch Eulen nach Athen tragen, wenn man überflüssigerweise Dinge an Orte bringt, wo sie schon vorhanden sind.


Am nächsten Tag traf ich gegen Mittag alle Vorbereitungen, um nach Arad zum Arzt zu fahren. Ich lief durch alle Zimmer des Hauses, um Türen und Fenster zu schließen. Es hatte nach einer stürmischen, regnerischen Nacht merklich abgekühlt, sodass ich morgens alles zur Abkühlung der Räume aufgerissen hatte. Im wegen seiner Bauernmöbel sogenannten “blauen Zimmer”, dem Spielzimmer von Vicky  angekommen, hörte ich seltsame Geräusche, die aus dem Ofen kamen. Zu dieser Jahreszeit, selbstverständlich unbenutzt, steht dort ein Schwedenofen mit Glasscheibe. Und dahinter befand sich etwas Graues, Flatterndes, das sehr lebendig gegen die Scheibe schlug und auf sich aufmerksam machte. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass es ein eulenartiger Vogel sein musste, zwischen Flügelschlägen erkannte ich einen runden Kopf, einen gebogenen Schnabel und helle runde Augen, die man selbst durch die Glasscheibe gut sehen konnte. Ich öffnete die Ofentür und griff vorsichtig nach der Gefangenen, die tatsächlich eine kleine Eule war, die sich ruhig umfassen und befreien ließ. Draußen sah ich mir das märchenhaft wirkende Wesen in meiner Hand näher an. Es sah adrett aus, das grau-melierte Gefieder fühlte sich glatt und weich an, sogar die Zehen waren von dichten Federchen bedeckt. Nur die großen Krallen an deren Ende ließen erahnen, dass diese wie mit puscheligen Hausschuhen bekleideten Füße kraftvoll zupacken konnten.  Auch der Blick der Eule aus hellgrünen Augen ruhte ruhig und hypnotisch auf mir. Das Foto, das Hans hastig von uns schoss, zeigt zwei gleichermaßen erstaunte Geschöpfe. Eine ganze Weile musterten wir uns gegenseitig. War sie wohl schon gestern Abend im Sturm in den Schornstein gefallen? Dagegen sprach, dass ich sie dort morgens beim Lüften noch nicht gesehen hatte. Was, wenn sie wie Hedwig, die Eule von Harry Potter absichtlich durch den Rauchfang gekommen war, um mir eine Botschaft zu überbringen oder etwas mitzuteilen? Mein Herz begann wild zu schlagen, ihres blieb ganz ruhig, als wüsste sie, dass ich sie gleich befreien würde. 

Dann ging alles schnell. Ich brachte meine Hedwig unverzüglich in den Hof und setzte sie so behutsam, wie ich sie an mich genommen hatte, wieder ab. Die Eule wartete eine Weile, schüttelte ihr Gefieder und erhob sich dann in die Luft.  Erleichtert sah ich, dass sie gar nicht verletzt war, denn mit einem Zwischenstopp im Fliederbusch flog sie in die Krone der hohen alten Fichte, wo sie sich im Dunkel der Äste unseren Blicken entzog. 

ree

Später fuhr ich nach Arad zum Arzt, sorgenfrei und völlig ruhig, denn ich war noch ganz beglückt von dem Besuch der Eule. Zurückgekehrt wollte ich wissen, mit wem genau ich es zu tun hatte: laut Google handelte es sich um einen Steinkauz, eine Minieule, die in Höhlen haust und gerne auf Schornsteinen sitzt. Und ja, von allen Eulenvögel ist gerade der Steinkauz Pallas Athene zugeordnet, das stand auch im Internet. Meine persönliche Bekanntschaft mit dem Vogel der griechischen Göttin, ließ mich seine entspannte Ausstrahlung, ja Besonnenheit spüren; die Eule steht zurecht für Weisheit und Gedankenstärke. Der Verstand sagt, dass Hedwig und ich uns bestimmt nie wiedersehen werden, doch ich weiß, dass sie noch da ist. Die Weile, die ich mit der Eule verbringen durfte, wird nachwirken, da bin ich mir sicher.



bottom of page