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Love you Lenau - Zur Amerikareise Nikolaus Lenaus im Spiegel seiner Briefe und Gedichte

Aktualisiert: vor 4 Tagen

„Lenau“, schon wenn man den Namen ausspricht, klingt es offen, weich, fast weiblich, gleichzeitig so kurz und eingängig, dass jedes Kind es sich merken kann, so dass man Nikolaus Franz Niembsch Edler von Strehlenau noch posthum zu diesem Pseudonym gratulieren möchte, das sich selbst 175 Jahre nach dem Tod des Poeten wie ein Markenname für Lyrik eignet, die, obwohl er die Region nie wieder besucht hat, immer noch mit dem Banat in Verbindung gebracht wird.


Weniger bekannt und untersucht ist die Tatsache, dass Lenau selbst im Jahr 1832, als er sich schon auf dem Sprungbrett zur Berühmtheit befand, eine Auswanderung in die „Neue Welt“ nach Amerika in Erwägung zog. Der Dichter, der so viele Aussiedler anspricht, wurde somit selbst in einer bestimmten Etappe seines Lebens zum Auswanderer. Die Reise nach Amerika, von der er vielleicht schon seit seiner Jugendzeit träumte, dauerte vom Frühling des Jahres 1832 bis in den Sommer 1833 – ein Abenteuer, das sowohl in seinem Leben als auch in seinem Werk eine wichtige Zäsur darstellen sollte.


Der von mir gewählte Titel „Love you Lenau” mag vielleicht provokant wirken, verlockend schien mir die englische Alliteration, die einerseits daher gerechtfertigt ist, dass Lenau selbst in seiner Jugend Grundzüge des Englischen erlernte und die Sprache in der Neuen Welt bestimmt auch benutzte.

Die Reise nach Amerika war sicher das größte Abenteuer im Leben des spätromantischen Dichters und eignet sich besonders dazu, ihm fern der Heimat durch diese wortwörtliche Erweiterung des Horizonts auf die Spur zu kommen. In zahlreichen Briefen, die Lenau in diesem Zusammenhang schrieb, ist die zeitweilige Auswanderung sehr gut dokumentiert. Sowohl die Reise als auch der Aufenthalt in der Neuen Welt hinterließen auch im Werk des Dichters wichtige Spuren. So wird im Folgenden zuerst die Situation Lenaus vor dem Aufbruch skizziert und darin vor allem Motive für die Amerikareise gesucht. Anschließend erfolgt ein kurzer Abriss der Amerikareise und des Aufenthalts in der neuen Welt. Schließlich soll sowohl anhand der im Zusammenhang mit der Amerikaerfahrung geschriebenen Gedichte als auch der Briefpassagen deren Bedeutung im Leben und im Werk zu ermittelt werden. 


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Lenau in Weinsberg bei Kerner

Von links: Theobald Kerner, Nikolaus Lenau, Gustav Schwab, Graf Alexander von Württemberg, Karl Mayer, Justinus Kerner, Friederike Kerner, Ludwig Uhland, Karl August Varnhagen von Ense (im Garten vom Kernerhaus in Weinsberg)


Vermutlich träumte schon der jugendliche Niki, in der Zeit als Privatschüler in Tokaj, wohin es ihn mit Mutter, Schwestern und Stiefvater verschlagen hatte, den amerikanischen Kontinent zu bereisen. Sein junger Hauslehrer Jószef Kövesdy, der im Lauf der Zeit zum Mentor und Freund wurde, begeisterte ihn auch während der Zeit im Piaristengymnasium in Pest für Themen, die später in Lenaus Dichtungen immer wieder auftauchen sollten: das Streben nach politischer Freiheit und Unabhängigkeit und die Exotik Amerikas. Kövesdy selbst war als Jugendlicher sogar mal von zu Hause ausgerissen, um in die Neue Welt auszuwandern, war aber, ohne Geld und ohne Ausweis, nur bis Salzburg gekommen, von wo er nach Wien zurückgeschickt worden war. Die Erzählungen des Jugendfreundes über die Sehnsucht nach der Neuen Welt blieben wohl in der Erinnerung Lenaus verhaftet.


Viele Jahre später, als der aufstrebende Dichter schon regelmäßig im von Cotta verlegten und Gustav Schwab herausgegebenen “Morgenblatt für gebildete Stände” im publizistischen und poetischen Miteinander mit schwäbischen Dichtern veröffentlichte, nahmen die Träumereien seiner Jugend Gestalt an. Der fast 30-jährige Poet aus Österreich befand sich im Winter 1831/32 an einer entscheidenden Weggabelung: Neben umfassenden philosophischen, juristischen und medizinischen Studien hatte Lenau auch umfangreiche Dichtungen vorgelegt. Gedichte wie Das Posthorn, Herbstgefühl, die Schilflieder, die Winternacht oder Himmelstrauer zeigten schon ganz jene dichterische Naturgestaltung, für die Lenau bekannt werden sollte. Vor allem die Schilflieder gehörten zu den gelungensten und beliebtesten Werken des spätromantischen Dichters. Im Gedicht Himmelstrauer traf Lenau seinen charakteristischen, melancholischen Ton schon deutlich: Die Verschmelzung der Natur und des Menschen im poetischen Bild. Im August 1831 wurde mit Johann Friedrich Cotta ein Vertrag zur Veröffentlichung seiner Gedichte in Auflagenhöhe von 1000 Exemplaren für ein Honorar von 275 Gulden abgeschlossen. 


Auch politisch-agitatorische Klänge hatte der Student Lenau im Zusammenhang mit seiner Sympathie für den Aufstand in Polen zu der Zeit schon angeschlagen.

Mangelndes literarisches Profil oder eine Schaffenskrise waren also nicht die Ursachen, dass Lenau die Alte Welt Europa verlassen wollte.


Im Privaten stand der zwischen einem bürgerlichen Leben und einem Leben als Künstler schwankende junge Mann damals schon eher unter Druck. Schon seit geraumer Zeit beschäftigte ihn die Bekanntschaft mit Schwabs Nichte Lotte Gmelin, die einen großen Eindruck auf den schwärmerischen Dichter gemacht hatte. Seinem Schwager Anton Schurz in Wien vertraute er an, wie es um ihn bestellt war: „Die ganze Nacht schwebte mir ihr Bild vor…Große, edle Gestalt. Voller, üppiger Körperbau, den aber ein edler Geist beherrscht. Daher leichter Gang, Anmuth aller Bewegungen; besonders schön und unfasslich über den Hüften. Edles, deutsches, frommes Gesicht, tiefe blaue Augen mit unbeschreiblichem Liebreiz der Brauen. Aber ich werde diesem Mädchen entsagen, denn ich fühle so wenig Glück in mir, dass ich Anderen keins geben kann.”


Doch in diesen Zeilen klingt auch Lenaus Dilemma an. Eine Ehe mit Lotte, die in seinem Freundeskreis zu der Zeit durchaus diskutiert wurde, lehnte Lenau ab, sehr zum Leidwesen Gustav Schwabs, der auf eine Verbindung des aufstrebenden Dichters aus Wien mit seiner Nichte hoffte. Nicht nur Schwab, auch Mitglieder von Lenaus Stuttgarter Freundeskreis rieten ihm dazu, einen Beruf zu ergreifen, etwa indem er sein Medizinstudium, das schon sehr weit fortgeschritten war, abschloss.


Doch Lenau zeigte Bindungsängste, verließ den Stuttgarter Freundeskreis, schlug sowohl den Beruf des Arztes aus, als auch andere Posten, mit denen er ein sesshaftes Leben hätte führen können, zugunsten des amerikanischen Abenteuers. Weder Angehörige noch Freunde, nicht die verehrte Lotte oder Aussicht auf eine bürgerliche Existenz konnten ihn in Europa halten.


Die Entscheidung, nach Amerika zu gehen, fiel endgültig in der ersten Märzhälfte und wurde durch den Umstand möglich, dass Lenau durch eine Spekulation mit Wertpapieren einen Gewinn von 1200 Gulden gemacht hatte. Er wurde mit 5000 Gulden Mitglied eines Auswanderervereins, einer Aktiengesellschaft, die für diese Summe die Reisekosten übernahm und 1000 Morgen Land in Übersee in Aussicht stellte. Damals konnte er noch nicht ahnen, dass es sich um einen unseriösen Verein handelte, durch den Lenau noch in Schwierigkeiten geraten sollte.


Der Freund Justinus Kerner, in dessen Haus Lenau zu der Zeit mit so bekannten Literaten wie Achim von Arnim, Clemens Brentano, Friedrich de la Motte Fouqué, Eduard Mörike, Karl August Varnhagen von Ense zusammen kam, erfuhr als einer der ersten von Lenaus Vorhaben und er hielt nicht viel davon. Auch andere enge Freunde, wie der Jurist und Schriftsteller Karl Mayer, Josef Klemm oder Gustav Schwab, rieten von dem Amerika-Abenteuer ab.


Doch Lenau ließ sich nicht beirren und schrieb an seinen Schwager Schurz, den Mann seiner Lieblingsschwester Therese: „Nämlich, ich will meine Fantasie in die Schule – in die nordamerikanischen Wälder – schicken, den Niagara will ich rauschen hören, und Niagaralieder singen. Das gehört notwendig zu meiner Ausbildung. Meine Poesie lebt und webt in der Natur, und in Amerika ist die Natur schöner, gewaltiger, als in Europa. Ein ungeheurer Vorrat der herrlichsten Bilder erwartet mich dort, eine Fülle göttlicher Auftritte, die noch daliegt, jungfräulich und unberührt, wie der Boden der Urwälder. Ich verspreche mir eine wunderbare Wirkung davon auf mein Gemüt. Dieses Argument Lenaus, das er wiederholt äußerte, dass er nämlich die Reise zu Bildungszwecken antrat und um seine Fantasie zu schulen, sollte man durchaus ernst nehmen. So schwebte ihm offenbar eine Art poetische Bildungsreise vor, in deren Rahmen er durch die exotische Naturerfahrung in Amerika sein dichterisches Repertoire erweitern wollte. Nicht zuletzt erhoffte sich Lenau durch das exotische Naturerlebnis auch eine gewisse Linderung seiner melancholischen Gefühlszustände.

Zu dem poetischen Motiv kam die Absicht, in den Vereinigten Staaten Land zu kaufen. Die Hoffnung, richtig wohlhabend zu werden, war eine weitere Antriebsfeder für den Aufenthalt, den Lenau ursprünglich für längere Zeit, eventuell sogar für einige Jahre, geplant hatte.


Jedenfalls schien der Amerika-Reisende in spe nicht nur von Hoffnungen begleitet, sondern auch von Ängsten und Nöten geplagt. Im Schwäbischen Merkur hatte er eine Meldung über die neuen, im April 1832 in Kraft getretenen Auswanderergesetze in Österreich entdeckt: „Hiernach zerfallen die Auswanderungen in gesetzliche und unbefugte. Erstere geschehen in Folge einer nachgesuchten und erhaltenen Bewilligung und haben bloß die Folge, dass der Ausgewanderte die Eigenschaft eines Österreichischen Unterthanen verliert und in allen Beziehungen künftig als Fremder behandelt wird. Die ohne Bewilligung Ausgewanderten gehen des Rechts der Staats-Bürgerschaft verlustig, verlieren ferner den Rang und die Vorzüge, die sie bisher genossen, können kein Eigenthum in den Kaiserlichen Staaten erwerben, ihr zurückgelassenes Vermögen wird mit Beschlag belegt…” Das war nichts anderes als Maßnahmen zur Enteignung, die der österreichische Staat seinen Bürgern androhte, und Lenau war durchaus dadurch gefährdet. Die Gültigkeit seines Passes war nämlich abgelaufen, und Lenau war drauf und dran, die Reise mit einem ungültigen Dokument anzutreten. Wegen Verwicklungen in das politische Zeitgeschehen, durch eine unerlaubte Veröffentlichung, fühlte der Dichter sich in gewisser Weise als politisch Drangsalierter und traute sich nicht nach Wien, um gültige Ausweispapiere zu beantragen, und plante wegen des ungültigen Passes seine Rückfahrt bis Herbst 1833.


Nikolaus Lenau bereitete sich gründlich auf die große Reise vor. Er kaufte sich neue Stiefel, brachte seine Gewehre und Pistolen in Schuss, verpflichtete einen Diener und einen alten Gaul, packte Gottfried Dudens „Bericht über eine Reise nach den westlichen Staaten Nordamerikas“ ein, ein Buch, das als Leitfaden für die Auswanderer diente.


Schon vor der Abreise verfasste er ein Gedicht, in dem er in bewusst eingenommenem, kritischen Ton die Missstände in seinem Vaterland anprangert, mangelnde Freiheit als Auswanderungsgrund nennt und gegen beengende deutsche Verhältnisse Position bezieht. Es ist das Werk, das über hundert Jahre später für die Banater Schwaben viel Identifikationspotenzial bieten sollte, indem sie den Begriff Vaterland auf die kommunistische Diktatur Rumäniens übertrugen und in der neuen, freien Welt die Bundesrepublik Deutschland sahen.


Gedichtrezitation von Astrid Ziegler


Am 12. Juni war der große Augenblick des Aufbruchs gekommen. Lenau begab sich nach Mannheim, von wo aus es mit dem Schiff nach Amsterdam gehen sollte. Auf dem Rheindampfer in Mannheim befanden sich unter anderen Carl August Ferdinand Mohl, der Kommissär der Auswanderergesellschaft, der er mit einer Kapitaleinlage beigetreten war, ein Zimmerermeister namens Ludwig Häberle, gleichfalls Auswanderer, aus dem Vorstand desselben Vereins.


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Lenau auf dem Weg nach Amerika. Grafik erstellt von Hans Rothgerber


„Ein kurioser Trupp”, schrieb Lenau an Gustav Schwab, „manches Gesindel darunter; aber die Vorsteher…sehr ehrenwerte Männer, die ich täglich höher achte, und unter deren Leitung sich auch die Kuriosen noch moralisch akklimatisieren werden.”

Dies sollte sich als eine gründliche Fehleinschätzung erweisen. Als während der Flussfahrt publik wurde, dass vor allem Mohl finanzielle Unregelmäßigkeiten verursacht hatte, machten das auswandernde “Gesindel” Nikolaus Lenau, der einige Semester Deutsches Recht in Wien studiert hatte, zu ihrem anwaltlichen Vertreter. Der Poet, der durch die Veruntreuung selbst auch 300 Gulden verloren hatte, zeigte bei dieser Gelegenheit eine erstaunlich praktische Seite: Als studierter Jurist richtete er ein sogenanntes offenes altdeutsches Schöffengericht ein, das den Fall beurteilte. Der betrügerische Vorstand Mohl wurde als schuldig befunden und sogar unter Deck in Haft genommen. Lenaus entschlossenes Handeln erwies sich später als kompetent und angemessen und stellt eine beachtenswerte Episode dar, in der der Dichter seine in Jahren des Studiums erworbene Qualifikation praktisch unter Beweis stellen konnte. Auch sein virtuoses Geigenspiel kam dem vielseitig begabten Künstler noch auf dem Rhein zu Gute. In der niederländischen Stadt Lobith gab er ein Konzert, auf Anregung des örtlichen Bürgermeisters, der ihn dafür auch ohne gültigen Reisepass auf der IJssel flussabwärts weiterfahren ließ.


Am 18. Juli kam Lenau in Amsterdam an, einer Großstadt mit 200.000 Einwohnern, die dem Auswanderer zum Abschied von der alten Welt sowohl Vergnügungen als auch Kunstgenuss im Rijks-Museum bot.


Am 27. Juli lief das Segelschiff “Baron von der Kapellen” mit Lenau und weiteren 263 Auswanderern an Bord aus und gelangte nach einigen Anlaufschwierigkeiten – im Kanal von Texel stieß man mit einem anderen Schiff zusammen, die Segelstange brach und musste repariert werden – endlich auf hohe See. Da Lenau privilegiert und nicht mit den einfachen Auswanderern im Zwischendeck zusammengedrängt war, sondern über eine eigene Kabine verfügte, in der er fleißig schrieb, kamen auch Briefe über die Reise selbst bei den Zurückgebliebenen an. Die schlechte Ernährungssituation an Bord, die zum Ausbruch von Skorbut mit Schwächezuständen, Müdigkeit und Blutungen führte, machte ihm allerdings zu schaffen und war die Ursache für weitere Erkrankungen während der Wintermonate in Amerika. Schon auf der Überfahrt auf dem Atlantik änderte sich der Ton in den Gedichten des Reisenden. Das lyrische Ich des Auswanderers nahm eine andere Rolle ein als vor der Abreise. Nimmt es in “Abschied” noch eine entschlossen kritisierende Position dem Vaterland gegenüber ein, so gewinnt in dem Gedicht “An mein Vaterland” die Sehnsucht nach der Heimat die Oberhand, aus den Versen spricht Heimweh, noch bevor der Auswanderungswillige den Fuß in die so vielversprechende neue Welt gesetzt hat.


Gedichtrezitation von Astrid Ziegler


Sich in der Gewalt der Elemente zu befinden, wie es damals bei einer Seereise auf einem Segelschiff der Fall war, hat Lenau einen tiefen Eindruck hinterlassen. In einem Brief an seinen Schwager Anton Schurz beschreibt er unmittelbar nach der glücklichen Ankunft die Erfahrung folgendermaßen: “Das Meer ist mir zu Herzen gegangen. Das sind die zwei Hauptmomente der Natur, die mich gebildet haben: dies atlantische Meer und die österreichischen Alpen; doch möcht ich mich vorzugsweise einen Zögling der letzteren nennen.” Diese intensiven Eindrücke und deren inspirierende Wirkung während der Überfahrt schlagen sich in den mit “Atlantika” überschriebenen Gedichten nieder.


Am 8. Oktober 1832 lief das Segelschiff nach einer zehnwöchigen Überfahrt, in der es auch in stürmische Fluten geraten war, in die Chesapeak Bay ein und kam in Baltimore an, wo Lenau im Hotel Exchange abstieg. Nun war die Zeit gekommen, Englischkenntnisse anzuwenden, die der Student Lenau schon 1828 in Wien erworben hatte.


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Route der Amerikareise von Nikolaus Lenau. Grafik erstellt von Hans Rothgerber


Mit einem Schimmel und dem Diener Philipp Huber, der ihn schon auf der Überfahrt begleitete, ging es anschließend von Baltimore in Richtung Pittsburgh. Auf dem Weg lernte der Dichter, der endlich besagte Urwälder durchstreifen wollte, einen Herrn namens Alexander King kennen, der ihm den Reiseführer “Mitchell's Travellers Guide through the United States” mit einer Landkarte und einem Städteverzeichnis schenkte. Interessant an der Begegnung ist, dass sich der europäische Baron und der amerikanische Bildungsbürger auf Lateinisch unterhielten. Lag es am Standesdünkel, die damalige Lingua Franca der Gebildeten sprechen zu wollen, oder an mangelhaften Englischkenntnissen Lenaus? Jedenfalls suchte der Auswanderer auch in Pittsburgh Anschluss an Deutsche und fand Unterkunft im Haus eines aus Schwaben stammenden Kaufmanns und Rechtsanwalts. Mit den aus der alten Heimat stammenden Landsleuten wurde dann auch der Landkauf geplant, so dass man gemeinsam nach Economy Village, einer 32 km entfernten kleinen Ortschaft am rechten Ufer des Ohio, reiste. Dort fand man Rat und Anschluss in der sektenähnlichen Gemeinschaft der “Rappisten”, geleitet vom “Guru” und Patriarchen Johann Georg Rapp. Auf Empfehlung der in Gütergemeinschaft und Ehelosigkeit lebenden Rappisten begab sich Lenau auf den 180 km langen und mühevollen Weg nach Wooster, im Bundesstaat Ohio. Nachdem die Urwälder mit reichlich gebotener Inspiration zur Genüge durchstreift waren, fand dort am 26. November endlich der geplante Landkauf statt, der ja das zweite Motiv der Auswanderung darstellte. Der Dichter wurde Grundbesitzer, nachdem er drei zusammenhängende Parzellen in Form eines spiegelverkehrten L mit der Größe von 162 Hektar zum Preis von 500 Dollar in Crawford County erworben hatte. Es handelte sich um sogenanntes „Congress Land“, das heißt vom Kongress für den Privaterwerb gewidmeten und vorgesehenen Grund. Ausgerechnet in den unwirtlichen Monaten Dezember und Januar war der verwöhnte Adelige, der nie einen Haushalt führen musste, damit konfrontiert, auf seinem eigenen Grund und Boden Rodungen vorzunehmen, ein Blockhaus zu bauen und ein karges Einwandererdasein zu fristen. Auf der angrenzenden Farm siedelte ein Schweizer namens Brünnert, der den Nachbarn als Mann beschrieb, der gar nicht in diese Wildnis passte: Auch als Farmer war Lenau stets elegant gekleidet, trug Pelzmantel, feine Schuhe und führte die Axt mit Glacehandschuhen.


Dem Pionier wider Willen wurde in dieser Zeit schnell klar, dass er für ein Leben als Siedler nicht geeignet war. Er sollte bald nicht nur das Dasein als Farmer aufgeben. Nach einer rheumatischen Erkrankung und einer Kopfverletzung bei einem Schlittenunfall, beides Folgen der Strapazen in der Einöde, stand auch der Entschluss fest, Amerika den Rücken zu kehren. In der Zwischenzeit hatte sein Schwager bis zum Frühling 1832 einen gültigen Pass besorgt, der 3 Monate gültig war, so dass die Rückkehr nach Europa für Juni geplant werden konnte.


Vor der Heimfahrt wollte der Dichter aber noch die Niagarafälle sehen, den großen Wunsch, den er, wie eingangs erwähnt, schon im Vorfeld seiner Reise gehegt hatte. Nachdem für das erworbene Land ein Pächter gefunden wurde, konnte Lenau endlich zu den Niagarafällen aufbrechen, die er über Erie und Buffalo erreichte. Das spektakuläre Naturschauspiel sollte vor New York die letzte Station und den ersehnten Höhepunkt der Amerikareise ausmachen und sich in seinem Werk als besondere Kulisse niederschlagen. An dem Ort, der schon damals eine Sehenswürdigkeit darstellte, kam der Dichter auch mit der indigenen Bevölkerung in Kontakt. Während sich Lenau in der Korrespondenz eher enttäuscht über die Ureinwohner äußert, dichtete er ihnen in den Gedichten Freiheitsstreben an. Die unter dem Eindruck der Niagarafälle entstandenen Werke “Der Indianerzug” und “Die drei Indianer” vermitteln den Eindruck einer archaischen Begegnung mit einer stolzen Kultur. In beiden Gedichten symbolisieren Flüsse eine Zeit, die den Menschen mit neuen Entwicklungen hinweg reißt. Die amerikanischen Ureinwohner sehen auf der Flucht vor der neuen, sie bedrängenden Zivilisation der Weißen keine andere Möglichkeit mehr, als den Freitod.


Die drei Indianer


Mächtig zürnt der Himmel im Gewitter,

Schmettert manche Rieseneich in Splitter,

Übertönt des Niagara Stimme,

Und mit seiner Blitze Flammenruten

Peitscht er schneller die beschäumten Fluten,

Daß sie stürzen mit empörtem Grimme.


Indianer stehn am lauten Strande,

Lauschen nach dem wilden Wogenbrande,

Nach des Waldes bangem Sterbgestöhne;

Greis der eine, mit ergrautem Haare,

Aufrecht überragend seine Jahre,

Die zwei andern seine starken Söhne.


Seine Söhne jetzt der Greis betrachtet,

Und sein Blick sich dunkler jetzt umnachtet

Als die Wolken, die den Himmel schwärzen,

Und sein Aug versendet wildre Blitze

Als das Wetter durch die Wolkenritze,

Und er spricht aus tiefempörtem Herzen:


»Fluch den Weißen! ihren letzten Spuren!

Jeder Welle Fluch, worauf sie fuhren,

Die einst Bettler unsern Strand erklettert!

Fluch dem Windhauch, dienstbar ihrem Schiffe!

Hundert Flüche jedem Felsenriffe,

Das sie nicht hat in den Grund geschmettert!


Täglich übers Meer in wilder Eile

Fliegen ihre Schiffe, giftge Pfeile,

Treffen unsre Küste mit Verderben.

Nichts hat uns die Räuberbrut gelassen,

Als im Herzen tödlich bittres Hassen:

Kommt, ihr Kinder, kommt, wir wollen sterben!«


Also sprach der Alte, und sie schneiden

Ihren Nachen von den Uferweiden,

Drauf sie nach des Stromes Mitte ringen;

Und nun werfen sie weithin die Ruder,

Armverschlungen Vater, Sohn und Bruder

Stimmen an, ihr Sterbelied zu singen.


Laut ununterbrochne Donner krachen,

Blitze flattern um den Todesnachen,

Ihn umtaumeln Möwen sturmesmunter;

Und die Männer kommen festentschlossen

Singend schon dem Falle zugeschossen,

Stürzen jetzt den Katarakt hinunter.


“Nichts hat uns die Räuberbrut gelassen,

Als im Herzen tödtlich bittres Hassen:

Kommt ihr Kinder, kommt, wir wollen sterben!”


Der Dichter lässt in seinen Versen die Ureinwohner die Kritik über die Neue Welt äußern und die Verzweiflung über den Imperialismus der neuen Eroberer, der ihnen keinen Raum mehr lässt:

Stets weiter, drängen uns, als ihre Herde,

Stets weiter, weiter, die verfluchten Weißen,

Die kommen sind uns von der Muttererde,

Und von den alten Göttern fortzureißen.


Diese Gedichte bestätigen Lenaus schon in Europa eingenommene poetische Haltung zwischen Naturbegeisterung, Streben nach Freiheit und schmerzvoller Desillusionierung, sie vertiefen sie sogar. Zu dem Lenau'schen Personal der gesellschaftlich Verfemten, das sich vor der Reise aus Armen, Außenseitern, Zigeunern (Roma), Bettlern zusammensetzte, gesellen sich hier die indigenen Ureinwohner des Kontinents. Sie beschreiben Lenau einerseits als Opfer der Kolonisation durch die weißen Siedler, denen er Mitgefühl und Würde verleiht.


Das Absurde an dem in den Gedichten angeschlagenen kritischen Ton ist, dass der Verfasser, der in seinem Werk die Indianer zur Symbolfigur der Vertriebenen im eigenen Land macht, durch seinen Landkauf und Spekulationsabsicht selbst zum Profiteur werden wollte. Wie viele andere zu der Zeit hatte auch Lenau sich von der damals in Amerika herrschenden Goldgräberstimmung anstecken lassen, die letztendlich zu Lasten der indigenen Bevölkerung gegangen war.


Während in den Gedichten die Enttäuschung über die Neue Welt poetisch verarbeitet wird, kommt sie in den Briefen unverhohlen zum Ausdruck.


Vom ersten Tag an wirkte Lenau in den Vereinigten Staaten, die er in einem Brief gar nicht gentlemanlike als “verschweinte Staaten” bezeichnet, deplatziert. Der österreichische Adelige, der sich gerne zum ungarischen Baron stilisierte, der Salonlöwe, Müßiggänger, ewige Student, begabte Musiker, romantische Freund und Liebender, der Künstler, der jeden Beruf zum Broterwerb bewusst ausschlug, war mit dem rauen Leben in der Neuen Welt heillos überfordert und konnte sich als Siedler und Pionier nicht behaupten.


Entsprechend unfreundlich äußerte er sich in seiner Korrespondenz über die Amerikaner und ihr Land. “Rauhe Menschen” seien sie, “keine leidenschaftlichen Menschen”, “himmelanstinkende Krämerseelen”, denen es nur darum gehe schnell ein paar Dollars zu verdienen. Auch bei der Stellung der amerikanischen Frauen schwingt Belustigung mit: “Ich kann das amerikanische schöne Geschlecht nur darum loben, dass es meiner Ruhe niemals gefährlich werden könnte. Auffallend ist übrigens die hohe Verehrung und die große Galanterie, mit welcher die hiesigen Ehemänner ihren Frauen begegnen. So z.B. gehen die Männer in den Städten auf den Gemüsemarkt, den Korb am Arme tragend, und kaufen hier das Nöthige zusammen, während die Frauen sich zu Hause sehr behaglich und sehr müßig auf eigens dazu eingerichteten Schaukelstühlen hin und her wiegen. Die Weiber sind fast heilig gehalten.”


Das Unverständnis für die Bewohner der neuen Welt korreliert mit der Enttäuschung Lenaus über die Natur Amerikas, in der er die in Europa heimischen Singvögel und vor allem die Nachtigall vermisst, ein Topos, den der Dichter öfter verwenden sollte. An Emilie und Georg von Reinbeck schreibt er zum Beispiel am 5. März 1833: Die Natur ist hier entsetzlich matt. Hier gibt es, wie sie wissen, keine Nachtigall, überhaupt keine wahren Singvögel. Dies scheint mir ein poetischer Fluch zu seyn, der auf dem Lande liegt, und von tiefer Bedeutung. Der Natur wird es hier nie so wohl ums Herz oder so weh, dass sie singen müsste. Sie hat kein Gemüth und keine Phantasie…”


Lenaus hohe Erwartungen an die Neue Welt hatten sich kaum erfüllt. Der europäische Intellektuelle verlor in den sechs Monaten, die er in Amerika zubrachte, die romantische Hoffnung auf ein Leben in politischer Freiheit, die zu der Zeit viele Deutsche mit ihm teilten, und scheiterte krachend an der praktisch ausgerichteten Gesellschaft der Vereinigten Staaten.


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Nikolaus Lenau, gemalt von Johann Umlauf, ca. 1844


Er kehrte aus Amerika erschöpft, krank und wie um Jahre gealtert nach Europa zurück. Hatten die Entbehrungen der Amerikareise ihn zu der Erkenntnis geführt, dass er für das praktische Leben ungeeignet sei? Jedenfalls hatte er bei seiner Rückkehr gründlich mit dem Gedanken an ein bürgerliches Leben abgeschlossen: Er sollte künftig nie einen eigenen Haushalt führen, keinen Beruf ausüben, nicht sesshaft werden und auch nicht heiraten. Stattdessen sollte er sich in den folgenden Jahren ganz und konsequent ausschließlich seiner Dichtkunst widmen und von seiner Poesie leben.

Schon in Bremen, dem Ankunftsort aus Übersee, stellte der Heimkehrer fest, dass er durch die Veröffentlichungen vor der Abreise sehr große, positive Beachtung erfahren hatte und in Abwesenheit als Dichter berühmt geworden war.

„Ich muss lachen darüber”, schrieb Lenau wieder in Stuttgart in einem seiner Briefe, „dass ich habe ins Ausland müssen, um Werth und Bedeutung zu Hause zu bekommen. Es geht mit den Dichtern in Österreich, wie in Bremen mit Cigarren. Die in Bremen gemachten Cigarren werden nach Amerika geschickt, dort bekommen sie die ausländische Signatur und wandern dann wieder heim. Alles wundert sich über den charmanten Geruch, den sie jetzt haben, während sie früher keinem Teufel schmecken wollten.”


och wie steht es um die Liebe zu Lenau heute. Die Amerikakritik des Dichters mit dem kulturkritischen, empathischen Ton kann uns auch aktuell noch etwas sagen. Vor allem die Themen, die sich durch die Amerikareise in seinem Werk verdichteten: Außenseitertum, Naturgewalt und –zerstörung, Streben nach Freiheit und Menschenwürde, Kritik des zügellosen Gewinnstrebens haben auch heute Aktualität. Nikolaus Lenau sah in seiner Amerikareise nicht das verheißene „Land der Freiheit“, sondern ein Land der Enttäuschung: von Naturzerstörung, Gewinnsucht, moralischer Leere und Entfremdung. Seine Amerikagedichte und Briefe zeigen einen romantischen Geist, der sich am neuen Kontinent stößt. Das Gedicht “Im Schatten der Highways” überträgt diese Enttäuschung in die Gegenwart und versucht, sich Lenau auf moderne Weise intertextuell zu nähern:


Im Schatten der Highways


Am Rand der Stadt, wo Beton in grauen Falten liegt,

schläft ein Fremder unter Pappe.

Die Menge geht vorüber,

die Augen blind, die Herzen schwer vom Kaufen.

Und irgendwo,

ein Kind, das kein Zuhause kennt,

trägt seine Welt in einer Tasche,

und niemand sieht das Glimmen in seinen Augen.

Ach, Menschheit!

Noch immer stehst du vor den Schwächsten,

so wie der weiße Strom der Schiffe

vor den Indianern am Strand.

Deine Hände voll Gold,

dein Herz leer.


4 Kommentare


peter.m93@outlook.com
vor 5 Tagen

Faszinierend, liebe Astrid. Schoene Erinnerungen die einen an manch eigene Abenteuer 'in the sands of time' erinnern. Thanks a bunch. To your success!

Peter


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Gast
vor 4 Tagen
Antwort an

Danke lieber Peter! So landete Lenau schließlich auch in Australien..

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Gast
vor 5 Tagen

Wunderschön, liebe Astrid. Wort für Wort hast du mich in den Bann dieses Textes gezogen. Danke.

Liebe Grüße

Edith

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Gast
vor 4 Tagen
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Das freut mich außerordentlich, liebe Edith!

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