Hinta-Palinta mit Mickymaus
- Astrid Ziegler

- 19. Juli
- 5 Min. Lesezeit

“Iarăşi vine Hinta-Palinta..” rief die Frau im weißen Kittel, die den älteren Herrn mit dem kleinen Mädchen auf dem Arm am Gang des Spitals in Empfang nahm mit einer Mischung aus Heiterkeit und Mitleid und geleitete die beiden in ein Behandlungszimmer. Ich sehe den Raum noch schemenhaft vor mir, das trübe Fenster, den schlichten Stuhl und die wackelige Ablage, auf der verschiedene medizinische Geräte lagen, Requisiten des Dramas, das sich täglich um mich abspielte. Panik machte sich in mir breit, soweit man das eine Dreijährige betreffend so sagen kann.
Bestimmte Erinnerungen würde man gerne aus dem Gedächtnis tilgen, bestimmte Fenster, hinter denen Beängstigendes lauert, für immer geschlossen lassen. Etwa die an die Augenblicke, wenn sich der Ohrenarzt mit seiner gleißend hellen Stirnlampe näherte. Wusste ich doch schon aus leidvoller Erfahrung, welch grausames Werk er an mir vornehmen würde. Wie auch zahlreichen anderen Leidensgenossen wurde mir als Kleinkind wiederholt das Trommelfell durchstochen und ich fürchtete alles, was weiß gekleidet war. Ich war also schon früh traumatisiert, die Meinen vor die herausfordernde Aufgabe gestellt, dem Kind die panische Angst vor den Halbgöttern in Weiß zu nehmen. In meinen Alpträumen saß ich nur mit einem Maioh bekleidet in einer Umkleide wissend, dass hinter der Tür der Teufel lauerte, der eine gleißend helle Stirnlampe trugt.
Für die Mission, mich ohne Gegenwehr zum Inhalieren zu bringen, wurde mein Großvater abgestellt. Er war von solider Statur, hatte ein gelassenes Gemüt, war aber auch robust genug, mein herzzerreißendes Weinen zu ertragen.
Während sich die Frau im Arztkittel auf dem Utensilienschränkchen, auf dem ich schon die riesengroßen Spritzen erspäht hatte, zu schaffen machte, was in meinem von Angst vernebelten Sinn nichts Gutes verhieß, begann ich mich auf dem Arm meines Großvaters zu winden und zu sträuben und mit Blick auf die riesige “seringă” aus Leibeskräften zu schreien.
“Stați că mai chem pe cineva s-o țină …” (“Ich rufe noch jemanden, um sie festzuhalten…”) sagte die Krankenschwester, die es gewohnt war, nicht lange zu fackeln. “Das wird nicht nötig sein”, lehnte mein Großvater ebenfalls auf rumänisch dankend ab und flüsterte mir beruhigend zu: “Nicht weinen, du kennst das doch schon, es wird nicht weh tun, wir machen nur “hinta- palinta”. Er setzte sich mit mir auf den Stuhl, umfing mich, als wollte er mich in den Schlaf schaukeln und murmelte beruhigend: “Hinta, palinta, reghi Dunna, kis katona…” Denn Sinn der Worte verstand ich noch nicht, doch der Klang der ungarischen Sprache war mir schon vertraut und durch das Schaukeln ließ ich von meiner Gegenwehr ab. Die “tanti doctor”, ich machte keinen Unterschied bezüglich des medizinischen Personals, das mich in der Mangel hatte, entscheidend war für mich der beängstigendere weiße Kittel, kam auf mich zu. Doch in Händen hielt sie nicht die berüchtigte riesengroße Spritze, sondern eine Inhalationsmaske, die sie mir kurzerhand über Mund und Nase stülpte.
“Ce ochi are…!” konstatierte sie, als nur noch die großen dunklen Augen sichtbar waren, die sie wahrscheinlich aus einer Mischung von Entsetzen und zaghaftem Vertrauen angeblickt haben. Ihr tat offenbar das Geschöpf, das sie vorher noch gewaltsam fixieren wollte, leid. "Știi deja să numeri până la zece? Hai să numărăm…” schlug sie in der Sprache, die mir schon ziemlich vertraut war, vor. Sie begann zu zählen…”unu, doi, trei, patru…” Gleichzeitig hörte ich meinen Großvater mich wiegend den ungarischen Reim weitermurmeln:...”oda menjünk lokni, hól tejet lehet kopni…Und ich atmete erleichtert und sog das feuchtwarme Medikament aus dem Inhalator ein während ich das Stoßgebet, das einzige das ich damals kannte, im Geiste aufsagte: “Ich bin klein, mein Herz ist rein, kann niemand hinein…”. Gott sei Dank bin ich dem Teufel und seiner seringa entkommen und nicht gestochen worden, dachte ich, während mir die Augen zufielen.
Das ist die Vergangenheit, die heute noch sehr präsent ist, zu der jedes Mal ein Fenster aufgeht, wenn mich die Atemnot wieder heimsucht. Bei jedem Asthmaanfall, bei jeder Bronchitis, bei jedem grippalen Infekt, der sich an die Lunge zieht, öffnet sich ein ‘Time Gap’, und ich werde zu dieser frühkindlichen Erinnerung an die Inhalationen im Temeswarer Kinderkrankenhaus zurückkatapultiert.
So auch gerade in München. Gestern eröffnete mir der Hausarzt, den ich wegen Schluck- und Atembeschwerden aufgesucht hatte, ich hätte Corona. Die Seuche kommt wie immer ungelegen, eigentlich wollte ich mit meiner Familie nach London fahren, zum Sightseeing und Shopping and Eating and Drinking. Daraus wird nun nichts, ich bleibe zu Hause im Bett voller Selbstmitleid daran denkend, wie kränklich und geplagt ich doch seit Kindertagen bin. In der Abgeschiedenheit meines Krankenlagers ploppt die Erinnerung an die zahlreichen Begegnungen mit Ärzten in den frühen Jahren auf, ich höre die verschiedenen Sprachen und Stimmen der Menschen, die sich um mich als Kranke scharten.
Zum Beispiel fallen mir auch die Worte des Temeswarer Kinderarztes Doktor M., der immer zum Hausbesuch in die Strada Costineşti kam, wieder ein. Ich pflegte im Krankheitsfall tagsüber im Wohnzimmer auf dem Diwan ausgestreckt zu liegen, um mein Lager herum befanden sich Tassen mit Tee und Schüsseln mit Kompott, wohlgemeinte und mit Fürsorge zubereitete Dinge, die ich jedoch wegen stechenden Halsschmerzen und von Fieber verursachter Appetitlosigkeit nicht zu mir nehmen konnte. Wenn in der Küche endlich die aufgeregte Geschäftigkeit zu vernehmen war, wusste ich, dass die immer gleichen Worte des Arztes bald folgen würden. Mit hoher Fistelstimme rief der Doktor jedes Mal beim Betreten des Zimmers: "Wo ist die kleine Mickymaus…?!” Damit war natürlich sofort das Eis gebrochen, das immer latent zwischen kindlichen Kranken und ihrem Arzt besteht. Die Frage ließ jede Unbehaglichkeit verfliegen, gab es doch keine schöneren Assoziationen als die berühmte Figur von Walt Disney, die auch in Rumänien jedes Kind kannte und liebte. Ich hätte gerne so laut ich konnte: “Hieeer…!” geschrien, was ich mir aber aus notorischer Schüchternheit verkniff.
Von Doktor M. ließ ich mir aber widerstandslos mit einem kalten Instrument aus Metall in den Hals schauen, das er seiner großen schwarzen Arzttasche entnommen hatte, in dem sich auch ein Stethoskop und viele and Dinge befanden, auch die berüchtigte “Seringa”, die aber meist gut verstaut blieb. Oft litt ich unter “amigdalită”, einer Mandelentzündung, gegen die er einige Kritzeleien auf ein Papier schrieb. Worum es sich dabei handelte und wie die Erwachsenen aus diesen Hieroglyphen schlau wurden, war mir jedes Mal ein Rätsel. Nach gestellter Diagnose, ausgehändigtem Rezept und einigen freundlich gewechselten Worten, wanderte dezent ein Umschlag in die Tasche des Doktors. Auf diese Weise waren alle Beteiligten nach so einem Hausbesuch glücklich und zufrieden. Mein Freund Arpi, der zwei Häuser weiter wohnte, erzählte mir irgendwann, dass der Arzt auch ihn immer mit diesen Worten beim Hausbesuch begrüßte. Da stellte sich mir unwillkürlich und wehmütig die Frage: "Ja, wie viele Mickymäuse hatte denn Doktor M. in Temeswar?!”
Doktor M., der sich der psychologischen Wirkung dieses Kosenamens vielleicht gar nicht bewusst war, hatte, ähnlich wie mein Großvater mit dem Kinderreim, sofort Vertrauen aufgebaut. Die Mickymaus, die wir manchmal im Fernsehen, gelegentlich auch im Kino zu sehen bekamen, war nicht nur für mich, sondern für meine ganze Generation die Heldin einer unbeschwerten Kindheit voller Heiterkeit und Glück. Die schwarze kleine Maus zu sehen, war jedes Mal ein Vergnügen: sie war unser Vorbild, was Erfindungsreichtum und Schlauheit betraf und konnte sich dadurch gegen alle Widrigkeiten und Widersacher behaupten. Was könnte einem schon so eine Krankheit anhaben, wenn man Mickymaus war? Die Begrüßung des Arztes somit war schon der erste Schritt zur Genesung.
So wurde die Mickymaus für mich zusammen mit dem alten Wiegenlied “Hinta-Palinta” Sinnbilder für Genesung und Rekonvaleszenz. Die alte Weise, die denjenigen, die kein Ungarisch können wie ein Zungenbrecher vorkommen muss, ist wiegend rhythmisch zu murmeln, dann merkt man, dass sie im Takt eines immer schneller schlagenden Herzens daherkommt. Mir nahm das “Hinta Palinta” damals nicht nur die Angst vor dem weißen Kittel, die Worte und der Rhythmus, die tiefen und erholsamen Schlaf versprechen, begleiten mich auch heute im Unterbewusstsein wie ein Mantra.
Nun liege ich also mit Corona darnieder, konzentriere mich auf meinen Atem, wie damals, als ich das Inhalieren in Temeswar lernte und denke “Hinta Palinta..”










Liebe Astrid, wir wünschen dir eine baldige Genesung!
Den London Urlaub wirst du bald nachholen!
Dieser Kinderarzt Doktor M. war auch bei Dagmar bei Bedarf zu Besuch!