Tief wurzelndes Unkraut, hoch rankende Reben, saftige Beeren - Ein poetisches Gartentagebuch
- Astrid Ziegler
- vor 3 Tagen
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Aktualisiert: vor 1 Tag

Altweibersommer
Wenn die flirrende Sommerhitze mit den großen Ferien zu Ende ging und der milde September seine Aufwartung machte, pflegte meine patente Temeswarer Großmutter erleichtert aufzuatmen: “Endlich ist der Altweibersommer da”.
Der Herbst war ihre liebste Jahreszeit, obwohl eine arbeitsreiche Zeit ins Haus stand. Die Früchte des Gartens wurden zu “Djuwetsch” verkocht, Krautköpfe gehobelt und es mussten Berge von Blättern gekehrt werden.
„Gibt es denn wirklich einen Sommer für alte Weiber?“, fragte ich damals meine Omi, die ich – als eben erst pensionierte Lehrerin mit ungebrochener Autorität – niemals so zu nennen gewagt hätte. Sie trug im Haus manchmal eine Kittelschürze, band ihre Haare mit einem Tuch zusammen und schwang den Besen unter den Kastanienbäumen. Zwar klagte sie zuweilen über Hexenschuss und Rheumatismus, doch in meinen Augen war sie alles andere als alt.
Mit Sommer verband ich die heißen Tage und Wochen in Paulisch – Hundstage, an denen selbst der Hofhund Fritz sich in den Schatten hinter seiner Hütte verkroch und sich dort eine kühle Kuhle in den Boden gescharrt hatte. Auf dem Land nannte man Frauen mit dunklen Röcken und Kopftüchern „alti Weiwer“, obwohl sie meist noch rüstig und selbst nach heutigen Maßstäben noch vital und leistungsfähig waren.

Meine Omi, ganz Lehrerin, erklärte mir geduldig, der September werde Altweibersommer genannt, weil seine milde Wärme vor allem älteren Frauen wohltue, die der Hitze des Hochsommers nicht gewachsen seien und – wie Fritz und andere Vierbeiner – die häusliche Kühle suchten. Nun aber könnten sie wieder hinaus und sich an den sanften Sonnenstrahlen erfreuen.
Außerdem, fügte sie hinzu, schwebten in dieser Zeit feine, silbrig schimmernde Fäden durch die Luft – zarte Gespinste, die das Ende der warmen Jahreszeit ankündigen. Auch sie würden „Altweibersommer“ genannt.
Ich staunte nicht schlecht, und all diese Bilder, Gerüche und Geschichten verdichteten sich in meiner Fantasie zu einem angenehmen Gefühl, das ich bis heute abrufen kann, sobald ich das Wort Altweibersommer höre.
Damals spielte sich unser Altweibersommer in Temeswar ab – heute verbringe ich ihn, wann immer es mir möglich ist, in Paulisch. Inzwischen bin ich selbst so alt wie meine Großmutter damals – was mir manchmal kaum zu glauben scheint.
Der vergangene Sommer war wieder einer jener glühend heißen, an denen Jung und Alt, Mensch und Tier tagsüber kaum etwas ausrichten konnten. Umso sehnlicher wurde er erwartet – der goldene, tröstliche Altweibersommer, der uns alle mit seiner milden Wärme verwöhnt.

Herbstzeit – Zeit der Traubenlese
Der Herbst ist in Paulisch vor allem die Zeit der Traubenlese. In meinem Garten wachsen einige knorrige alte Rebstöcke, denen ich die Freiheit lasse, nach ihrer eigenen Laune zu gedeihen. „Vița de vie este neam cu liana“ – die Weinrebe ist mit der Liane verwandt –, erklärte mir einst mein geschätzter Nachbar, Domnul Gligor, als ich nach meiner Rückkehr nach Paulisch meine Reben in seine erfahrenen Hände legte. Ein ganzes Leben lang hatte er auf den Weinbergen gearbeitet, und nun, als Pensionist, kümmerte er sich mit großer Hingabe auch um meine Pflanzen.
Damals standen in meinem Garten noch ordentlich in Reih und Glied Wein- und Tafeltrauben beieinander: Cadarca neben Cardinal, țîța caprei – die „weiße Ziegenzitze“ – neben Fetească Neagră, der schwarzen „Mädchentraube“. Doch Herr Gligor ist leider nicht mehr unter den Lebenden. Vor einigen Jahren ist er „dicolo de ştrec“, jenseits der Bahnlinie, gegangen – so wird der Friedhof, der auf der anderen Seite der Bahnstrecke liegt, im Dorf auf Rumänisch umschrieben. Ein passender Euphemismus, der gleichzeitig das aus dem Deutschen übernommene Lehnwort ştrec (von Bahn-Strecke) enthält, ein Zeugnis des jahrhundertelangen Zusammenlebens von deutschen und rumänischen Nachbarn.

Wenn die Trauben reifen, denke ich oft dankbar an seine Geschichten und Erklärungen über den Weinbau in der Region zurück. Ich vermisse ihn sehr, denn trotz intensiver Suche habe ich im ganzen Dorf niemanden gefunden, der ihm in Sachen Rebenpflege das Wasser reichen könnte.
Doch im Gegensatz zu früheren Zeiten lasse ich meine alten Reben heute frei – ohne Draht, ohne Pflock, ohne Zwang. Die frechen, schlauen Ranken dürfen sich entlang der Holunderhecke am Zaun entlang winden oder sich wie Lianen hoch um den Tannenbaum schlingen. Die dicken blauen Trauben danken es mir mit reicher Ernte. Ich strecke mich nach den süßen Beeren, und wo selbst die Leiter nicht mehr reicht, dürfen Insekten und Vögel sich laben.
In diesem Jahr habe ich besonders viele Bienen und Wespen beobachtet, die sich an den Trauben gütlich taten. Da der Frost im April und die sommerliche Dürre kaum Obst und nur wenige Blüten übriggelassen haben, sind meine frei wachsenden Lianenreben zu einer wahren Oase für sie geworden – ein letzter, süßer Gruß des Sommers.

Vom Saft und der Süße
Zu den höheren Weihen des Weinkelterns bin ich noch nicht gelangt. Ich koche nur Traubensaft – schlicht, ehrlich, ohne Anspruch auf Kunst. Vielleicht auch, weil vor meiner Haustür ein Weingut liegt, das meinen Lieblingswein vorrätig hat.
Dann ziehe ich alte Kleider an, solche, die Flecken verzeihen, und wünsche mir eine geblümte Kittelschürze wie die der Banater Hausfrauen.Beere für Beere löse ich vom Stiel, wasche sie, lasse sie durch die Finger rollen, prüfe die Spannkraft ihrer Haut,. Und natürlich wird gekostet – gründlich, mit Hingabe, mit Genuss.
„Hmmmm… heuer sind sie besonders süß und schmeckich“, stellen wir jedes Mal fest.
Nicht die Füße treten die Trauben, sondern die Hände drücken sie vorsichtig aus, bis das süße weiche Innere aus der indigofarbenen Schale herausquillt. Im Topf wird daraus duftender, dampfender Saft, der den Raum mit Wärme erfüllt. Und plötzlich ist sie wieder da, die Kindheit: ich sehe mich mit Freundinnen Trauben durch Tifontücher pressen, sehe den Großvater blutroten Saft in eine riesige Korbflasche füllen, die er “Demindjion” nannte, (wohl als Lehnwort aus dem rumänischen “damigiana”) füllen. Der Vorhang zwischen Gegenwart und Vergangenheit wird weggeweht wie das zarte Gespinst des Altweibersommers.

Von Wurzeln und Widerstand
Im Sommer bestand die Herausforderung darin, so oft wie möglich zu gießen – gegen die brüllende Hitze, gegen das Verdursten der Pflanzen, für ein kleines Stück Ernte. Nun, da es Herbst geworden ist, darf wieder gesät werden – ich wähle die Gewächse, die man jetzt noch pflanzen kann: Petersilie, Salat, Spinat und Zwiebeln Der Boden ist noch immer trocken, doch nicht mehr so hart wie im August, als jeder Spatenstich Funken zu schlagen schien.
Die Beharrlichkeit im August hat sich gelohnt: In den einst mickrigen Paprikapflanzen schwellen nun ein paar grüne, doch schon genießbare Gogoșari. Dahinter, im sorgsam gehackten Beet, wird die Erde für Neues vorbereitet.
Beim Umgraben stoße ich immer wieder auf tief wurzelndes Unkraut – zäh, unerschütterlich, kaum zu besiegen. Ich kenne es gut und hege eine Art stillen Respekt für diese Überlebenskünstler, die aus dem kleinsten Wurzelrest neu ergrünen. „Ăsta-i pir“, sagen die Nachbarinnen, die auch noch mit Hacke und Hand dagegen ankämpfen zu dem hartnäckigen Gras.
Zwischen den Reihen ranken sich auch wilde weiße Trichterwinden, umschlingen alles, was sie erreichen, und dazwischen breitet sich ein bescheidener Klee aus, genügsam und zäh.
Ich sehe all das, und anstatt es Unkraut zu nennen, denke ich lieber an Beikraut, an Mitbewohner im Beet. Ich beobachte ihre Koexistenz mit meinen Nutzpflanzen und lasse sie gewähren – denn sie lehren mich etwas über Beharrlichkeit, über Lebenswillen, über das resiliente Ausharren im Widerstand.

„Natur pflanzt nicht nach der Schnur.“
Dieser Gedanke – von Friedrich Ludwig von Sckell (1750–1823) dem Begründer des englischen Gartens geprägt – trifft auch auf meine Reihen zu. Auf meinem urbar gemachten Stück Erde muss nicht alles abgezirkelt sein. Mit leichter Hand und freiem Auge ziehe ich meine Linien und denke, dass ich in Zukunft noch experimentierfreudiger sein sollte, das Projekt Gartenbeet sollte schließlich einen kreativen Prozess anstoßen.
Über all meinen Naturbetrachtungen schwebt in diesem Herbst Nikolaus Lenau, der melancholische Dichter des Weltschmerzes, mit dem ich mich, wegen eines anlässlich einer Gedenktagung zu seinem 175. Todesjahr zu haltenden Vortrags, intensiv beschäftige. Für ihn war das Schreiben ein Therapeutikum – der Versuch, eine aus den Fugen geratene Wirklichkeit zu bändigen, sie in Sprache, in Form, in Klang zu bringen.
Wer könnte sich dem heute entziehen?
Vielleicht ist auch mein Garten – voller Wildwuchs doch auch köstliche Früchte hervorbringend – eine Art von therapeutischer Kulisse, um mit der Gegenwart klarzukommen: ein Ort, an dem sich das Leben entfaltet, ohne Anspruch auf Perfektion.

Intertextuell im Einklang mit Lenau
Lenaus Poesie lebt von der feinen Verflechtung zwischen Natur und Gefühl. Seine Landschaften sind keine bloße Kulisse, sondern Spiegel der Seele, ein Resonanzraum menschlicher Gefühle. Für ihn war die Natur niemals Selbstzweck, sondern Symbol für das weite Spektrum menschlicher Empfindungen.
In einem seiner Briefe heißt es:“Ich meine der Dichter soll seine Gebilde im Inneren und aus seinem Innern hervor schaffen und die äußere Natur soll ihm nur aus der Erinnerung, die im Augenblicke der dichterischen Thätigkeit freilich zur fruchtbaren Anschauung werden muß, gewisse Mittel suppeditieren. Kürzer: Die angeschaute u. zum Symbol gewandelte Naturerscheinung soll nie Zweck, sondern nur Mittel sein zur Darstellung einer poetischen Idee.”
Wie wäre es also, wenn auch ich, in diesem herbstlichen Garten, meine hochrankenden Reben, das tiefwurzelnde, geduldete Beikraut, die süßen Früchte, die flirrenden Hundstage, den milden Altweibersommer und die sich verfärbende Landschaft nicht nur sehe, sondern auch fühle – und sie mit meinen eigenen Empfindungen verwebe?
Vielleicht entstünde dadurch ein poetisches Gartentagebuch: kein Bericht über Wachstum und Ernte, sondern ein lyrische Dialog zwischen Erde und Empfindung, zwischen Vergehen und Entstehen, zwischen dem, was sich in der Natur zeigt – und dem, was in mir mitschwingt.
Zeit des Herbstes
(im Stil Nikolaus Lenaus geschrieben)
Wie still! — und doch, im welken Laub
Ein heimlich Glühn, ein mildes Leben;
Die Reben atmen süß und taub,
Vom Sommer müd, dem Licht entgegen.
Ich wandle durch den goldnen Raum,
Wo jedes Sein sich neigt zum Sterben,
Und träume zwischen Beet und Baum
Von meinem eignen Reifen, Werden.
Das Beikraut, das im Beete ruht,
Hat, wie mein Herz, sein still Verlangen;
behält, geduldig, seinen Mut,
Hat sich an Erd und Licht gehangen.
Die Frucht, die reift, ist mein Gefühl,
Die Sonne sinkt in roten Schleiern;
Und ich — ein Teil des großen Spiels —
Verweb’ mich mit der Ernte Feier.
O süßer Gram, o sanftes Sehnen,
Altweibersommer, milde Stunden!
Wie wär’s, könnt ich am Rebstock lehnen
Und fühlen, was in mir geschwunden.
Nicht nur zu schaun, wie alles schwindt,
Wie Blatt und Träume leise fallen —
Nein, fühlen, daß wir eines sind:
Des Gartens Flur, des Herzens Hallen.