Manchmal sagen Leser, die den Banat-Tour Blog und den Videokanal verfolgen, wenn wir uns zufällig treffen: “Sie sind doch die, die auf dem fliegenden Teppich Gedichte vorträgt!” Mich beschleicht dann eine Mischung aus Freude und Verlegenheit, denn so kurz und bündig, wie es spontan nötig wäre, kann ich gar nicht erklären, wieso ich zu diesem Hilfsmittel gegriffen habe, das eigentlich symbolträchtig ist. Ich will es hier mal versuchen.
Als ich in der Coronazeit meine Geschichten nicht mehr persönlich erzählen konnte, schlitterte ich in eine berufliche und private Krise. Zuerst war ich, wie alle unter den Umständen des Lockdowns, auf das häusliche Umfeld zurückgeworfen. Statt täglich mit Leuten in München unterwegs zu sein, -ich hatte damals immer das Gefühl wie ein Fisch im Wasser durch die Stadt zu schwimmen, die ich von A bis Z kannte- war ich wie alle anderen Lockdown und Kontaktbeschränkungen unterworfen. Im rumänischen gibt es den passenden bildhaften Ausdruck “nu am (mai) fost în apele mele”, das heißt, ich hatte meine vertrauten Gewässer verlassen und saß im übertragenen Sinn auf dem Trockenen.
Eigentlich hockte ich auf dem Teppich in meinem Arbeitszimmer und überlegte mir, wie ich mit der neuen Situation der Isolation umgehen sollte. Auf dem Teppich machte ich auch meine Yoga-Übungen, las, hörte Musik, entspannte mich und dachte viel nach. Wie so viele hatte ich auf einmal viel Zeit dazu. Doch ich ahnte nicht, dass die Coronakrise mir Freiräume eröffnen würde, um auf andere Art und Weise Geschichte und Geschichte zu erzählen.
In der Abgeschiedenheit des Lockdowns begann ich, den Blick statt auf die Sehenswürdigkeiten der Stadt München nach innen zu richten, auf Erinnerungen, die mit Bildern und Erlebnissen von früher verknüpft waren. Ich fühlte mich Zwängen unterworfen, denen ich mich nicht entziehen konnte. Ein Hauch von Autoritarismus wehte ins Leben herein und traf sich mit Erinnerungen an die Zeit des Kommunismus, die ich in Rumänien als Kind erlebt hatte.
Mein Blickwinkel war der eines Kindes der 70er Jahre gewesen und wie viele andere Banater Kinder dieser Zeit erlebte ich Strenge und Freiheit zugleich. Meine Erziehung war durchaus von einem bestimmten Gehorsam geprägt, doch sie war liebevoll, in der Schule ging es autoritär zu, doch wir lernten viel und ich ging gerne hin. Außerhalb des Unterrichts und abseits der Welt der Erwachsenen, denen wir Respekt entgegenbrachten, genossen wir Kinder sehr große Freiheit. So blieb viel Zeit für kreatives und ausgelassenes Spiel mit Freundinnen und Gefährten. Als Einzelkind war ich aber auch oft allein und verbrachte viel Zeit mit Lesen. Für immer wieder frische altersgerechte Lektüre sorgten nicht nur meine Eltern und Großeltern, sondern auch mein Onkel aus Deutschland. So bekam ich immer wieder die neuen Werke von einheimischen rumäniendeutschen Autorinnen wie Erika Hübner Barth, Hedi Hauser, Karin Gündisch, Rikarda Terschak. Im Bücherregal standen sie neben den Bänden von Astrid Lindgren und Friedrich Wolf, den Märchensammlungen der Brüder Grimm und Wilhelm Hauff, Christian Andersen und natürlich den Geschichten aus 1001 Nacht. Wunderdinge und -wesen aus rumäniendeutscher Feder, wie Fahrräder mit Flügeln, blaue zauberkräftige Schuhe, sprechende Tiere, die eine Tanne bewohnten, Forellen, die aus dem Wasser sprangen und in Wohnungen leben konnten, das alles zusammen beflügelte meine kindliche Fantasie genauso wie der Kalif Storch oder die Kinder aus Bullerbü. Ich kannte schon damals die Geschichte von Aladin und der Wunderlampe, deren Geist alles bewirken konnte, selbst Teppiche samt Prinzessinnen durch die Lüfte zu tragen. In unbeobachteten Momenten versuchte ich, ob es nicht doch irgendwie klappen konnte, dass der Läufer vor meinem Bett abhebt und stellte mir vor, wie wunderbar es wäre, damit aus dem Fenster zu fliegen.
Dagegen hörte ich die Erwachsenen oft sagen: “bleib auf dem Teppich!” Es gab kaum eine Redewendung, die mir passender erschien, denn ich hielt mich damals am liebsten auf dem Boden auf. In einer meiner ältesten Erinnerungen sehe ich mich als Kleinkind auf einem Teppich liegen, in der Hand eine mit flüssigem Grießbrei gefüllte Milchflasche, auf die ein Sauger gezogen war, in den meine Mutter mit der Schere ein extra großes Loch geschnitten hatte, damit der dicklichen Brei durch passte. Am liebsten saß ich auf dem Perser im Wohnzimmer. Der edle Bodenbelag, der nach langem Schlangestehen im Kaufhaus Modern am Opernplatz erworben worden war, wurde zu Hause penibel sauber gehalten. Er wurde geklopft, gepflegt und gehegt. Bevor Besuch kam, richteten Mutter oder Großmutter sogar die Fransen in gleicher Richtung aus. Eine Angewohnheit, die ich übernahm, indem ich mein Spiel manchmal unterbrach, um die Teppichfransen mit den Fingern zu kämmen. Wir Kinder ließen gerne unsere Matchbox-Autos, kostbare “Westimporte” an die man schwer herankam auf dem den Teppich umgebenden Parkettboden fahren. Auf dem Perser traten auch die Indianer und Cowboy Figuren gegeneinander an, die leichter zu bekommen waren, da sie aus einheimischer Produktion stammten und im Spielwarengeschäft “Cocoşul” am Corso erhältlich waren.
Doch auch was die Redewendung im übertragenen Sinn bedeutete, lernte ich während ich in Temeswar heranwuchs, denn alle in meinem Umfeld waren damals Zwängen unterworfen und blieben nolens volens auf dem Teppich.
Während mein Elternhaus großzügig mit weichen, wolligen Belägen ausgestattet war, ist der Fußboden in unserem Münchner Haus allergikerfreundlich gehalten. Weil wir alle mit einer Unverträglichkeit gegen Hausstaub geschlagen sind, haben wir fast überall blankes Parkett. Eine Ausnahme bildet der Teppich in meinem Zimmer, auf dem ich mich so gerne räkele und der dem Raum eine behagliche Atmosphäre verleiht. Er ist in warmen, weinrot-bräunlichen Tönen gehalten, zu denen ein kühles, dunkelblaues florales Muster einen reizvollen Kontrast bildet. Weiße und gelbe Tupfen in den tropfenförmigen Blütenblättern bilden helle leuchtende Akzente in dem dunkel gehaltenen Kunstwerk. Mein Teppich hat in etwa die Maße, dass eine zierliche Frau sich darin einwickeln lassen könnte wie Kleopatra, die der Legende nach in einem Läufer versteckt in Caesars Schlafzimmer geschmuggelt wurde.
Das für mich kostbare Stück bekam ich vor Jahren von meinem Vater aus dem Nachlass seiner Mutter, meiner Billeder Großmutter. Der Teppich stammt aus dem Billeder Haus und hatte mit meinen Großeltern die Reise in den Westen angetreten. Oft kauere ich auf diesem weichen gemütlichen Untergrund, Notizblätter rund um mich herum ausgebreitet, wie früher in der Kindheit die Cowboy Figuren. Hier entstanden meine ersten Texte mitten in der Coronazeit. Über diese Schreibversuche wurde die Verbindung zu Hans Rothgerber geknüpft, es entstand schließlich der Banat-Tour-Blog mit Videokanal. Darin entwickelten wir ein Lyrik-Format, in dem Gedichte von Autoren im Zusammenhang mit verschiedenen Ortschaften des Banats rezitiert werden sollten. Hans hatte die Idee, Aufnahmen der Banater Landschaft per Greenscreen für die Gedichtlesungen zu zeigen. Mir schwebte es dabei vor, mich über den Boden zu erheben und zu fliegen, und dafür suchte ich nach einem geeigneten Requisit.
Mein Vater rief mich an und erzählte: “Die erste Erinnerung deinen Teppich verbinde ich mit der Rückkehr 1947 nach der Flucht." Obwohl er zu der Zeit, als meine Großmutter mit ihrer Mutter und drei kleinen Kindern Billed als Flüchtlinge verließen, noch ein kleines Kind war, kann er sich noch an erstaunlich viele Details erinnern. “Wir kamen zu Fuß auf der Landstraße von Alexanderhausen zu unserem Haus, klopften ans Fenster des seitlichen Zimmers in dem Licht brannte, und wurden vom Pierre-Ottata freudig empfangen."
Und selbst nach so langer Zeit weiß mein Vater noch genau: “Nach Hause zurückgekehrt, schlief ich auf einem Diwan im Schlafzimmer meiner Großeltern." Damals hing dieser Teppich dort an der Wand”
Seine Muster und Farbgebung könnten laut Vater ein Hinweis auf den Fabrikationsort des außergewöhnlichen Exemplars sein.
“Der Pierre Ottata hat ihn wohl von einer seiner Reisen nach Ungarn mitgebracht.” Für meinen Billeder Urgroßvater Johann Pierre und seine Familie war die Zwischenkriegszeit eine gute Zeit. Er war Chemieingenieur und unter seiner Mitwirkung wurde in seinem Heimatort die erste Hanffabrik im Banat gegründet. In seiner Freizeit widmete er sich dem Studium der Banater Geschichte und veröffentlichte auch in den damaligen Publikationen. Sein Arbeitsbereich mit meterhohen Bücherregalen voller gedruckter Raritäten und sein riesiger Schreibtisch waren auch nach seinem Tod in der Bărăgandeportation im Billeder Haus erhalten. Die Zeit stand dort noch still, als ich als Kind in durchs Haus streifte und vor allem den Schildkrötenpanzer bewundete, der einst als Briefbeschwerer diente.
Ich hatte keine Scheu, die verknöcherte Hülle des Reptils, das mal darin gelebt hatte, in den Händen zu halten. In den Innenhöfen der Temeswarer Universität, wohin meine Mutter, die dort beschäftigt war, mich manchmal mitnahm, konnte ich lebende Landschildkröten bewundern. Ihr Kopf, die Füße und sogar der Schwanz ähneln denen der Drachen. Diese mythischen Wesen fürchtete und bewunderte ich zugleich. Eine meiner absoluten Lieblingsfolgen in “Game of Thrones” ist bis heute die, in der Königin Daenerys Targaryen in einer Arena für Gladiatorenspiele, von ihren Feinden auf äußerste bedrängt, auf ihren Drachen Drogon steigt, davonfliegt und dadurch gerettet wird.
Meinem Vorschlag, vor dem Greenscreen einen Drachen aufzustellen, auf dessen Rücken ich mich schwingen könnte, erteilte Hans eine ernüchternde Absage. “Mein improvisiertes Studio ist Lichtjahre vom Filmset von Game of Thrones entfernt!” Er meinte pragmatisch: "Was ist denn schon dabei, wenn du an einem ganz normalen Tisch sitzend die Gedichte vorträgst?!”
Ich rezitiere Poesie lediglich, analysiere und interpretiere, dagegen schrieb meine Urgroßmutter Elsa Pierre im Lauf ihres Lebens unzählige Gedichte. Bis auf eines, das aus der Bărăgandeportation überliefert ist, verbrannte sie im Alter ihr ganzes Werk. Aus der Deportation verschickte sie Aufzeichnungen, die schließlich in Deutschland landeten und in denen sich auch die Worte fanden, die später Titel eines Buches wurden: “Und über uns der blaue endlose Himmel…”
Unter den Habseligkeiten, die Elsa und Johann Pierre im Viehwaggon in die Steppe mitnahmen, befanden sich auch Teppiche. Ein heimlich aufgenommenes Foto zeigt die beiden vor ihrer notdürftigen Hütte, in der sie monatelang ausgeharrt hatten, auf freiem Feld. Elsa Pierre sitzt im Schatten und schreibt, während ihr Mann sich kraftlos im Lehnstuhl ausgestreckt an den Kopf fasst. Ihre primitive Behausung ist von Perserteppichen abgeschirmt. Mein weinrotbrauner Teppich mit dem blauen Blumenmuster war offensichtlich nicht dort, er wäre sonst auch von den Fluten des Pruth davon gespült worden. So wie die ganze mühsam aufgebaute Siedlung Frumuşița Nouă samt Friedhof, in dem mein Urgroßvater beerdigt worden war. Er hatte die Strapazen nur ein Jahr überlebt.
Meine Urgroßmutter war die letzte, die im überschwemmten Dorf von einem Hausdach gerettet wurde, so erzählte mir eine Zeitzeugin, die damals als Kind auch dort war. Obdachlos geworden, durfte Elsa wieder nach Billed zurück. Nicht sofort, erst nach zahlreichen Bemühungen durch ihre Tochter kam sie nach fünf Jahren Deportation nach Hause und zog wieder in das Zimmer ein, in dem der rötlichbraune blaugemusterte Teppich an der Wand hing. Ungefähr zwanzig Jahre später sah ich ihn dort zum ersten mal.
Ich liebte die Zeit mit meiner Urgroßmutter, die ich Omalein nannte, die mir Bücher und Kartoffelzucker schenkte und die sich freute, wenn ich in ihrem Reich mit dem Wandteppich verweilte. Dort hingen auch bunte, selbstgemalte Ölbilder an den Wänden, Nippesfiguren standen in der Vitrine auf gehäkelten Deckchen, es gab einen Paravent und einen Schaukelstuhl. Manchmal sahen wir zusammen ihre alte Kunstpostkarten an, die sie in jungen Jahren geschickt bekommen und in einem Album gesammelt hatte.
Der Teppich aus dem Zimmer meiner Urgroßmutter wird jeden Morgen auf das Geländer des Balkons gehängt, ich packe seine Enden und beutle ihn kraftvoll aus, bis er gründlich entstaubt ist. Während ich die Ränder so fest schüttele, dass das blaue Blumenmuster vor meinen Augen verschwimmt, entsteht der Eindruck, als würde der Teppich sich hoch in den endlosen Himmel erheben.
Dann erscheint es mir sehr passend, dass ich schließlich als Accessoire für meine Gedicht-Rezitationen einen Teppich gewählt habe. Ich schließe die Augen für einen Augenblick und denke: ”Flieg!”
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