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AutorenbildAstrid Ziegler

Grüße aus einer anderen Welt


Die Autorin als Ikone des Jugendstils in der Sammlung ihrer Urgroßmutter

Wenn ich als Kind bei meinen Billeder Großeltern zu Besuch war, spürte ich, dass ihr großes Haus ein ganz besonderer Ort war.

Ich schritt ehrfurchtsvoll durch die großen Zimmer, bestaunte die schweren Eichenmöbel im Wohnzimmer, die ewighohen Doppeltüren, deckenhohe Bücherregale und den riesigen Schreibtisch meines Urgroßvaters, auf dem der Panzer einer Schildkröte stand. Spielsachen gab es im ganzen Haus nur wenige, dafür einen Flügel, auf dem ich herumklimpern durfte, ohne dass es die Erwachsenen gestört hätte. Und wenn doch, dann waren sie froh, dass ich beschäftigt war und ließen sich nichts anmerken.


Am liebsten aber hielt ich mich im Omalein-Zimmer auf, dem Reich meiner Urgroßmutter Elsa. Sie war damals schon über 80 (Elsa Pierre, geb. Kleitsch ist am 13.12.1893 in Lowrin geboren), wirkte jedoch noch wunderbar mädchenhaft mit ihrer zierlichen Gestalt, dem verschmitzten Lächeln und den langen, noch dunklen, durch einen Kamm hochgesteckten Haare. Ich wusste damals noch nicht, dass sie ihren Sohn im Krieg und ihren Mann im Baragan verloren hatte. Mit Kindern wurde darüber nicht gesprochen.

Elsa hatte einen Schaukelstuhl im Zimmer, in dem ich eine gefühlte Ewigkeit sitzen konnte. Das ganze Zimmer wirkte wie verzaubert, als sei die Zeit in ihrer Jugend stehen geblieben. An den Wänden hing ein selbstgemaltes Still-Leben, in der Vitrine glitzerte Kristall und auf der Kommode standen Fotografien aus vergangenen Jahren: Elsa mit ihren Geschwistern, als schöne junge Frau, als glückliche Braut und schließlich mit der eigenen Tochter, meiner Großmutter.

Das Haus Billed Nr. 346 früher, unten die Hauptgasse mit dem Haus in der Bildmitte heute

Alles war schön, doch auf der Kommode, oder war es in der Vitrine, lag ein ganz besonderer Schatz: Das Album mit der Postkartensammlung, die unser „Omalein“ seit ihrem 11. Lebensjahr angelegt hatte. Es war das kostbarste und feinste Buch, das ich bis dahin gesehen hatte. Der Deckel war massiv und mit dem Relief eines Mädchens verziert. Im Inneren steckten kunstvoll bemalte Karten in Schlitzen, so dass man sie vorsichtig entfernen und auch die Kehrseite ansehen konnte, die meist beschriftet war.

Was damals für mich als 10-Jährige das schönste Kinderbuch der Welt darstellte, ist heute für mich ein Dokument der Familiengeschichte und ein einzigartiges historisches Zeitzeugnis. Gerade die Rolle meiner Urgroßmutter als Sammlerin und damit Bewahrerin der Kultur dieser speziellen Epoche ist mit dieser Untersuchung zu würdigen.

Das Sammeln und Erforschen von Postkarten nennt man Philokartie. Der Begriff wurde schon Ende des 19. Jahrhunderts geprägt, nachdem die Ansichtskarte als Kommunikationsmittel einen großen Aufschwung erlebt hat und bezeichnet ein Phänomen zwischen (Sammel-)Leidenschaft und Wissenschaft. Besonders in Deutschland, aber auch in anderen deutschsprachigen Ländern wie z.B. Österreich, waren Anfang des 20. Jahrhunderts Ansichtskarten-Alben so modern geworden, dass dieses Sammelfieber als „Deutsche Epidemie“ bezeichnet wurde.

Meine Urgroßmutter stellte also keine Ausnahme mit ihrem Postkartenbuch dar, sondern lag voll im Trend. Dass die Sammlung jedoch trotz Krieg, Flucht und Deportation erhalten geblieben ist, zeigt deren große Bedeutung für die ganze Familie.

Alte Ansichtskarten sind heute nicht nur wegen ihrer Briefmarken begehrt, sie dienen auch als Belegstücke und Hilfsmittel für andere Forschungsbereiche. Inwieweit die Postkarten von Elsa Pierre für die Banater Heimatforschung oder darüber hinaus bedeutend ist, bedarf noch intensiverer Beschäftigung.


Die Sammlung, die meine Urgroßmutter hinterlassen hat, umfasst 147 Ansichtskarten, etwa die Hälfte davon beschrieben. In dem schon stark beschädigten Album war ursprünglich Platz für weitere, die im Lauf der Jahre verloren gegangen sind. Die älteste Karte stammt aus dem Jahr 1901, die letzten im Konvolut wurden in den 20er Jahren verschickt. Adressaten sind verschiedene Mitglieder der Familie Kleitsch und Pierre, die Absender bilden ein Netzwerk von Verwandten, Bekannten und Freunden. Deren Mitglieder reisten z.B. bis nach Pullach i. Isartal, Tschechien oder Dalmatien und sendeten Grüße, Glückwünsche oder Lebenszeichen nach Billed. Die größte Entfernung hat eine Postkarte aus Kairo zurückgelegt, die Elsas Bruder Imré (oder Emmerich, wie er in manchen Schreiben genannt wurde) im Jahre 1911 an seine Angehörigen geschickt hatte. Auch über Geburten und Todesfälle in der Familie, die immer weiter verzweigt auch in Ungarn lebte, wurde per Postkarte informiert.


Blättert man in dem dicken Sammelalbum, fällt auf, dass die Bildmotive thematisch sortiert waren. Da gab es „Kinderkarten“ mit süßen Haustieren, Blumenmotive, Jagdszenen, Landschaftsbilder oder sehr ästhetische Frauendarstellungen. Diese sind wie Mannequins in der damaligen Mode gekleidet, oft mit floralem Schmuck versehen, Ikonen des Jugendstils und muten wie Ahninnen der heutigen Supermodels an.

Anhand der wunderschönen Karten kann man sich vorstellen, wie behütet meine Urgroßmutter in Billed in der Vorkriegszeit aufgewachsen ist. Es spiegelt sich darin zuerst das Leben einer gutbürgerlichen Familie, die trotz des frühen Todes des Vaters zusammenhielt und sich häufig per Post austauschte. Viele Karten sind in ungarischer Sprache geschrieben, die meisten müssten aufgrund der schwer leserlichen Handschrift noch entziffert werden. Doch der Kinderwortschatz an die kleine Sammlerin ist leicht zu verstehen: Der lieben Elsa werden viele Grüße, Küsse und Glückwünsche gesendet.


Einen großen Raum nehmen Postkarten des Ersten Weltkriegs ein, was die Frage aufwirft, wie sich das Thema Krieg in die Sammlung eines jungen, romanti­schen Mädchens einfügt. Neuere Studien zu Bildpostkarten im Ersten Weltkrieg weisen auf deren zentrale Rolle als Propagandamedium hin. Durch die Kombination von qualitativ hochwertigen Bildern und eigenen Texten entwickelte sich eine große emotionale Durchschlagskraft. 10 Milliarden Karten, die als Feldpost kostenlos befördert wurden, hielten den Kontakt zwischen den Soldaten an der Front und der Heimat aufrecht. Auch im Sammelalbum meiner Urgroßmutter finden sich Karten, die an den Verlobten oder den Bruder als Feldpost geschickt wurden.


Betrachtet man die Karten, die in unserer Billeder Sammlung den Weltkrieg zum Thema haben, fallen eine Reihe von sehr ästhetischen Stücken ins Auge, die wie auf der Rückseite gekennzeichnet, von dem Maler Brynolf Wennerberg gestaltet und im Verlag Albert Langen gedruckt wurden. Dieser schwedisch-deutsche Künstler war Mitarbeiter der bekannten Satirezeitschrift „Simplizissimus“ in München gewesen. Nach Ausbruch des Krieges 1914 schuf er im Zuge der allgemeinen nationalen Kriegs­begeisterung eine Serie von patriotischen Postkarten in denen er sein Lieblingsmotiv aufgriff, nämlich die Darstellung von jungen schönen, modisch gekleideten Frauen. In Kombination mit den Soldaten in makellos-schnittigen Uniformen und stilvollem Ambiente entstehen idealisierte Szenen, die mit der grausamen Kriegsrealität nichts zu tun haben. In dem schönen Album von Elsa fügen sich solche Idyllen perfekt in die Sammlung der romantischen jungen Frau ein.


Anders verhält es sich jedoch mit der Serie der österreichischen Postkarten, die laut Rückseite 1916 zum Wie­deraufbau zerstörter Karpatendörfer und zur Unterstützung von Witwen und Waisen gedruckt worden waren. Hier befinden sich Soldaten in K.u.K. Uniformen in heroischer Pose im Eifer des Gefechts. Wenngleich die Darstellung auch hier nicht viel mit der tatsächlichen, sinnlosen Brutalität des Krieges zu tun hat und z.B. Gefallene oder Verstümmelte, derer es ja viele Millionen gegeben hat, nicht gezeigt werden, so finden wir doch Szenen, in denen Soldaten unter großer Anstrengung für Kaiser und Vaterland kämpfen. Damit findet die Kriegsrealität ihren Niederschlag in der Postkartensammlung und man kann sich die Sorge vorstellen, die die Frauen zu Hause um ihre Freunde, Brüder oder Verlobte empfunden haben. Elsa zumindest hatte Glück, ihr zukünftiger Ehemann, mein Urgroßvater Johann Pierre, der auch als Offizier im Krieg gewesen war, kehrte zurück, die beiden hatten noch vor Kriegsende am 29.06.1918 geheiratet.

Hochzeitsbild meiner Urgroßeltern Elsa und Johann Pierre

Auch ein weiteres Phäno­men von welthistorischer Bedeutung spiegelt sich in dem Billeder Postkartenalbum, nämlich die Inflation. Auf einer Karte, die an Johann Pierre adressiert und auf den 23.08.1923 datiert ist und deren Ansicht die schöne Kirche in Pullach im Isartal zeigt, finden sich äußert interessante Briefmarken. Über das ursprünglich geringe Porto von 25 Mark ist in dicken schwarzen Zahlen und Buchstaben ein neuer Betrag gedruckt, nämlich die unvorstellbare Summe von 20 tausend Mark pro Marke.


Die Geldentwertung hatte sich im Laufe des Jahres 1923 immer weiter beschleunigt. Wer seinen Lohn nicht gleich nach Erhalt wieder ausgab, konnte sich schon Tage, manchmal Stunden später kaum mehr etwas davon kaufen. Die Menschen rechneten bald in Bündeln statt in Scheinen. Ich stelle mir vor, wie man mit der Schubkarre zum Briefmarkenkauf gehen musste. Erst Ende 1923, nach der Einführung der „Rentenmark“ durch die Währungsreform, wurde die Inflation beendet. Alle Bildpostkarten im Album haben gemeinsam, dass es sich um hochwertige Drucke von Gemälden oder Fotos handelt, die als künstlerisch wertvoll einzustufen sind. Das verbindende Element nach dem gesammelt wurde, ist die Qualität der Objekte.


Eines der zauberhaftesten Motive der Sammlung zeigt Haus und Hof eines typischen Anwesens im Banat mit zwei in Tracht gekleideten Frauen. Im Hof stehen Oleanderbäume, die in hölzerne Kübel gepflanzt sind. Der Titel des Bildes „Der Sonntagsbesuch“ lässt mich wieder an das Billeder Haus und seine damaligen Bewohner denken. Auch dort gab es noch in meiner Kindheit neben vielen anderen exotischen Pflanzen Oleander. Ich stelle mir vor, wie Geselligkeit und Gastfreundschaft das Leben dort vor dem ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit geprägt haben. Die hohen Räume erfüllt von Betriebsamkeit und den Stimmen von Elsa und ihrer, meiner Familie. Ich würde mich gerne dazugesellen bei einem Glas Rosenwasser (ein Getränk, das ich seit meiner Kindheit im Banat nie mehr getrunken habe) und ihren Erzählungen lauschen. Ich würde vielleicht auf meine Identität zu sprechen kommen. Dass ich auch nach so vielen Jahren in München auch ein bisschen Billederin bleiben werde. Das würde sie bestimmt freuen, waren doch auch sie sowohl Billeder Schwaben und Banater Deutsche, patriotische Kinder Österreich-Ungarns und gleichzeitig reisefreudige Europäer. Heimatverbundenheit und Weltoffenheit stellten für sie keine Gegensätze dar. Ich lege das Album - unseren Familienschatz - zur Seite und denke an meine Urgroßmutter, die liebe Elsa, die das Buch in glücklichen Jugendtagen im Banat, in Unkenntnis der schweren Schicksalsschläge, die kommen sollten, angelegt hatte. Es wurde bei uns trotz turbulenter Zeiten von Generation zu Generation weitergegeben, so wie es später auch meine Kinder bekommen werden.


Links: Laubengang im Billeder Haus 346. Rechts Elsa mit Astrid und Elsa als junge Frau


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