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Märchenhafte Verwandlungen


Im Märchenwald

Wer kennt sie nicht, die Märchen der Gebrüder Grimm, die in Leinen gebunden in den meisten Haushalten der Deutschen in Rumänien vorhanden waren. Für uns Kinder waren es die ersten Prosatexte, mit denen wir in Verbindung kamen. Sei es dadurch, dass abends vor dem Einschlafen aus dem dicken und oft schon zerfledderten Buch vorgelesen wurde oder, was noch schöner war, dass Eltern oder Großeltern die Geschichten erzählen konnten. Dies entsprach der mündlichen Überlieferung dieser alten Gattung sogar mehr als die verschriftlichte Version und die oft begnadeten Erzähler in der Familie konnten persönliche Noten und individuelle Schwerpunkte setzen.

Mir wurde die Figur des bösen Wolfes, der das arme Rotkäppchen verschlungen hatte, beispielsweise so eindringlich und anschaulich nahe gebracht, dass ich aus einer Sommerfrische in Moneasa heim gefahren werden musste. In den Wäldern um den Kurort war Wolfsgeheul zu hören, von dem ich vor Aufregung psychosomatisch zu fiebern begann. Laut moderner Forschung werden im Märchen nämlich Inhalte des kollektiven Unbewussten dargestellt. Dazu gehören zweifellos auch die in der kindlichen Psyche vorhandenen Urängste, die nach der Konfrontation mit der akuten Bedrohung auch verarbeitet werden können.

Im Wartburg meines Großvaters auf dem Weg nach Temeswar ging es mir dann nämlich schnell besser. Auf der Rückbank auf Kissen gebettet entfernte ich mich von dem bösen Wolf, der fortan im Wald von Moneasa bleiben und mich nicht mehr behelligen sollte. Von meiner komfortablen Position zu den Sternen blickend, grübelte ich schon über die nächste Erzählung, nämlich die der Sterntaler, die Geldsegen über ein armes aber freigiebiges Mädchen bringen konnten.

Das Märchenbuch, aus dem meine Mutter mir vor dem Schlafengehen vorlas, stammte noch aus der Zeit, in der sie in Kleinbetschkerek als Lehrerin gearbeitet hatte. Vor meiner Geburt hatte sie ihre Schülerinnen und Schüler mit diesen Geschichten vertraut gemacht, die in diesem alten Buch noch ohne Illustrationen abgedruckt waren. Das Heranführen an die Märchen, mangels Bilder durch reine Imagination, setzte frühkindliches Kopfkino in Gang und beflügelte die Fantasie mehr als spätere Bilderbücher oder gar Filme.


Natürlich bestaunten wir Kinder in den siebziger Jahren dann auch Walt Disneys Schneewittchen in Temeswar im richtigen Kino. Ich sah das hübsche junge Mädchen, die schön-böse Stiefmutter und die lustigen Zwerge, wie sie agierten, hörte sie sprechen und singen. Die schwarzhaarige Prinzessin gefiel mir auf Anhieb, denn sie wirkte kindlich wie ich und trug die dunklen Haare auch mittellang durch eine Schleife zurück gebunden.

Im deutschen Theater meiner Heimatstadt erlebte ich damals auch eine weitere prägende Geschichte. Es handelt sich um die Inszenierung von Wilhelm Hauffs Kunstmärchen der Romantik "Das kalte Herz". Ich litt mit der bedauernswerten Frau des Köhlers Peter Munk und verstand nicht, wie man ein warmes, schlagendes Herz für Reichtum verkaufen konnte. Es gab eine Szene, in der Holländermichel, der Bösewicht, der im Tausch gegen Menschlichkeit skrupellose Bereicherung ermöglichte, seinem Geschäftspartner Munk seine Herz Sammlung zeigte. Die Herzen pulsierten hellrot in der Dunkelheit und ließen einen erschaudern bei der Vorstellung, wie viele Menschen der Versuchung ihr Gewissen zu verkaufen, erlegen waren. Das verstand ich schon als Zehnjährige, kurz vor dem Abschied von meiner Geburtsstadt.


Durch meine eigenen Kinder kam ich dann wieder mit dem Zauber der Märchen, die inzwischen in Deutschland und Österreich sogar zum immateriellen UNESCO-Kulturerbe erklärt worden waren, in Berührung. Als meine jüngste Tochter Victoria ein Baby war, mochte sie nicht gerne Auto fahren, so dass ich Anfangs die Strecke München-Paulisch, knapp 1000 km, immer nachts zurückgelegt habe. Das brachte mich jedes Mal an die Grenze meiner Leistungsfähigkeit. Ab dem Zeitpunkt, als die Kleine gewissen rationalen Argumenten zugänglich geworden war, wurde dann endlich tagsüber gefahren. Als Reisebegleitung hatten wir unseren langjährigen Mitarbeiter Nelu dabei, der damals so gut wie zur Familie gehörte und auf der Fahrt gebeten wurde, als Märchenonkel Vicky bei Laune zu halten.


Wie beschwerlich aber auch wie schön waren doch diese Fahrten mit dem kleinen Kind! Wir sangen lautstark: În pădurea cu alune, aveau căsuța doi pitici oder Are o babușcă doi pui de rățuscă. Dann kamen die rumänischen Märchen dran, mit denen Nelu, der sich als begabter Erzähler entpuppte, uns in den Bann schlug. Auch ich lauschte aufmerksam den basme, meiner Kindheit. Zum Beispiel erinnerte ich mich wieder an die Punguța cu doi bani, oder an Prîslea cel voinic, Făt frumos oder Ileana cosânzeana. Ich hatte zwei Jahre lang einen rumänischen Kindergarten besucht, wo mir mit der Sprache auch diese Volksmärchen nahe gebracht wurden.

Vor allem die rumänische Version von Frau Holle, die Fata Moșului și fata babei heißt, ließ mich damals auf der Fahrt aufhorchen und brachte mich ins Grübeln. Die fleißige Goldmarie, fata moșului und die faule Pechmarie, fata babei landen beide bei Frau Holle, Sfânta Vinerea genannt. Damals war mir diese zauberkundige und auf Gerechtigkeit bedachte weise Frau, wie einst in der Jugend Schneewittchen, Identifikationsfigur, und faszinierte mich. Eine Frauenfigur mittleren Alters, die für zahlreiche Tiere sorgte und dringend Unterstützung während der Zeit ihrer Abwesenheit von zu Hause brauchte. So wie ich! In Paulisch hatten wir nämlich im Laufe der Jahre weggeworfene Hunde und Kätzchen in unseren Hof, wie in eine Arche Noah, aufgenommen. Als Victorias Spielkameraden und Gefährten bevölkerten sie neben Hühnern und Gänsen, ursprünglich als Nutztiere angeschafft, unseren Garten.


Und damit begann das Problem der Versorgung wenn wir zurück nach München fuhren. Ich musste wie Sfânta Vinerea Personen finden, die sich zuverlässig um die Tiere kümmerten. Seit die ersten Hunde Rocky und Bambi in unseren Hof gekommen waren, war ich mit dieser Sorge konfrontiert. Doch es ging nicht nur um die Pflege unserer vierbeinigen Freunde. Es mussten außerdem, wie bei Frau Holle, vor unserer Ankunft im Haus die Betten bezogen und Federdecken aufgeschüttelt werden. Außerdem wächst die üppige Vegetation in der überaus fruchtbaren Gegend so schnell, dass regelmäßig in Hof und Garten Gras gemäht und Unkraut beseitigt werden muss. Ich träumte sogar davon als Selbstversorgerin Gemüse wie Tomaten, Paprika und Vinete (Auberginen) anzupflanzen, auch Erbsen und Bohnen für die köstliche Gemüsesuppe Ciorba. Doch den Garten wirklich gut in Schuss zu halten war unmöglich, wenn man nicht das ganze Jahr dort lebte und mithalf.


Einfacher als mit dem Gemüse hat man es mit dem Obst. Äpfel, Birnen, Pflaumen, Aprikosen und Quitten wachsen bio ungespritzt und fast ohne Pflege an den Bäumen. Wenn wir im Sommer kommen, schreien die Schüttel mich und man kann nach der Ernte daraus die köstlichsten Kompotte und Marmeladen einkochen. Der Holzbackofen im Hof, den es in meiner Kindheit noch gegeben hatte, in dem Lissi Tante ihren saftigen Kuglupf gebacken hatte, steht leider nicht mehr. So backe ich meinen Gugelhupf und mein Dinkelbrot ganz neumodisch im Backrohr, Hauptsache man lässt sie nicht verbrennen wie die Pechmarie im Märchen.


Nun ist meine Jüngste bald im Alter der Märchenprinzessinnen. Die Zeit des Erzählens ist vorbei, auf Tablet und Laptop werden lieber Filme geschaut. Sie und ihre Freundinnen spielen gerne das Spiel: Welche Disney-Heldin passt zu mir? Ist es die braunhaarige Belle aus Die Schöne und das Biest oder die blonde Rapunzel oder die rothaarige Arielle aus der Adaption der Kleinen Meerjungfrau von Hans Christian Andersen. Den Figuren sind bestimmte Charaktereigenschaften, ist zugeordnet, durch einen digitalen Test erfährt man dann welche Heldin einem selbst am nächsten kommt. Vicky hat dadurch herausgefunden, dass sie zur Zeit Aurora, das Disney-Dornröschen, ist.

Die Faszination für die Märchen, die es weltweit in allen Kulturkreisen gibt, wird hoffentlich bleiben. Geschichten, die uns als Frauen von der kraftvollen Entwicklung von Mädchen zu starken Persönlichkeiten erzählen, sind auch heute aktuell. Von Frauen, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und mit Mut, Stärke und manchmal auch schier magischen Fähigkeiten für ihren Erfolg kämpfen.


Welche Prinzessin passt zu dir? fragte mich Victoria. Ich war mal Rotkäppchen, dann Schneewittchen, dann Aschenputtel, dann Frau Holle antworte ich ihr lachend.

Inzwischen hat sich die Situation verändert. Ich möchte eine Erzählerin sein wie Scheherazade und mir meine eigenen Geschichten spinnen.

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