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Wie wenn ein Riese die Erde schüttelt...


Kann man vorhersagen, wie das Herz in der nächsten Zeit schlagen wird? Nein, das ist nicht möglich. Die Feder ist aber nur ein seismographischer Griffel des Herzens. Erdbeben lassen sich damit festhalten, aber nicht vorhersehen.


Dem Zitat Franz Kafkas entsprechend geriet auch ich gestern in ein Wechselbad der Gefühle. Es war ein maximaler Kontrast: von der guten Laune in der Ausstellung während meiner Präsentation in der Expo multimedia tm 2023 von Emil Banciu zu den Sorgen, die mich kurz darauf zu Hause in Paulisch erwarteten.


Am Abend des 6. Juni im Centrul de Proiecte Timișoara, während meines virtuellen Streifzuges durch die Kulturhauptstadt, hatte ich mein Handy ausgeschaltet. Der Vortrag, in dessen Rahmen ich auch die Zerstörung des Temeswarer Kastells durch ein Erdbeben am 5. Juni 1443 und den Wiederaufbau durch den Temescher Grafen Filippo Scolari erwähnte, sollte nicht durch Telefongeklingel gestört werden. Das Publikum war toll: es lauschte meinen Ausführungen aufmerksam und beteiligte sich auch durch eigene Wortmeldungen. Nach dem Streifzug Periplu Timişorean folgten sehr interessante persönliche Gespräche und spannende neue Bekanntschaften. Die Stimmung war ausgelassen.


Als ich das Handy wieder einschaltete, sah ich sofort, dass ich zahlreiche Anrufe verpasst hatte. Da befürchtete ich schon, dass etwas passiert sei. Meine Familie, Bekannte und Freunde aus Paulisch hatten versucht, mich zu erreichen, manche sogar mehrmals. So läutete auch kurz nach dem Einschalten das Telefon und eine Nachbarin rief daraus aufgeregt : Alo, ați simțit cutremurul? Sunteți bine? (Hallo, habt ihr das Erdbeben gespürt, geht es euch gut?)

Seit dem verheerenden Beben in der Türkei und in Syrien am 6. Februar 2023 mit Zehntausenden von Toten, über hunderttausend Verletzten und zahlreichen zerstörten Städten und Ortschaften, ist das Wort Erdbeben geeignet, einem einen gehörigen Schrecken einzujagen.

Nun hatte offenbar fast auf den Tag genau 580 Jahre nach dem Erdbeben von 1443, welches das Kastell in Temeswar schwer erwischt hatte, auch in unserem Dorf die Erde gebebt. Die Gebäude wurden so erschüttert, dass die Leute, die im wahrsten Sinn des Wortes aus dem Häuschen waren, auf die Straße liefen, sich Sorgen machten und sich bei Nachbarn, Bekannten und Freunden nachfragten, ob ihr Haus beschädigt wurde.

Auf dem Heimweg rief ich beunruhigt Benno und Vicky an. Uns geht es gut, es ist alles in Ordnung, beschwichtigten sie. Das Haus hat halt gewackelt, berichtete mir meine Tochter.


Mir kam in den Sinn, wie ich als Kind die Panik im Zusammenhang mit dem schlimmen Erdbeben im März 1977 mitbekommen hatte. In Temeswar hatte man es damals kaum gespürt, doch mein Vater war zu der Zeit in Bukarest auf Dienstreise. In der Hauptstadt waren viele Menschen gestorben, verletzt und verschüttet worden. Wie durch ein Wunder war das viele Stockwerke hohe Hotel in dem er untergebracht war, unbeschädigt geblieben. Ein Anruf beruhigte uns damals; wir hatten in großer Sorge schon auf ein Lebenszeichen gewartet. Doch die verheerenden Zerstörungen in der Hauptstadt wurden noch Wochen danach im rumänischen Fernsehen übertragen. Eine Welle der Solidarität ging damals durchs Land und alle Leute litten mit den Menschen, die ihre Angehörigen und Behausungen verloren hatten. All das war plötzlich wieder in meinem Bewusstsein.


Es war schon dunkel als ich zu Hause ankam und wir saßen noch eine Weile zusammen und sprachen darüber, wie sich die Naturgewalt angefühlt hatte: Wie wenn ein Riese das Haus packt und schüttelt... meinte Vicky, die trotz der späten Stunde von dem Erlebnis noch ganz aufgekratzt war. Der imaginäre Riese hatte in Paulisch die ganze Erde mit den Gebäuden darauf geschüttelt und Mensch und Tier einen gehörigen Schrecken eingejagt. Unsere Hunde hatten das Beben kurz vorher gespürt, hatten angeschlagen und waren aufgeregt durchs Haus gelaufen. Vicky fiel als erste auf, dass unser Himmelbett auseinandergefallen war und die Stangen von der Decke herunterhiengen. Wir schliefen trotzdem gut in dem in Mitleidenschaft gezogenen Bett und waren einfach froh, dass wir wohlbehalten wieder zusammengekommen waren.


Als ich heute das volle Ausmaß der Beschädigung an unserem Haus begutachtete, war ich doch betroffen. In fast allen Zimmern sind Risse in den Wänden, ist Putz abgebröckelt. Am Morgen, bei Licht betrachtet, sah man auch den gravierendsten Schaden. Zur Landstraße hin auf der Längsseite des Daches waren Dachziegel verschoben und heruntergefallen und der First über die halbe Länge verrutscht.

Noch während ich um das Haus lief und überlegte, wer wohl Dächer reparieren kann, kamen Angestellte des Rathauses mit einem Fahrzeug mit Hebebühne und machten sich sofort ans Werk, um das Dach wieder dicht zu machen. Gestern Abend hatte es heftig geregnet und auch heute sieht man dunkle Wolken am Himmel, die weitere Niederschläge ankündigen. Das Einsatzteam aus dem Rathaus zieht in Paulisch von Haus, denn den Geschädigten soll so schnell wie möglich geholfen werden.


Nun ist etwas Ruhe eingekehrt und ich komme endlich dazu, die Nachrichten zu checken. In der Reihe der Beben, die das Banat in den letzten Wochen heimgesucht haben, war dies mit einer Stärke von 5,3 auf der Richterskala das Heftigste. Das Epizentrum lag wohl in der Nähe von Paulisch, weswegen es auch in den benachbarten Ortschaften und in Arad die meisten Schäden gegeben hat. Im Netz sind Fotos der angerichteten Schäden zu sehen: Häuser wurden abgedeckt, Fassadenbrocken lösten sich, Schornsteine fielen herunter.

Ich bin beeindruckt von der Solidarität der Menschen hier. Man kümmert sich umeinander und spricht über die Ängste und Nöte, die alle gemeinsam haben. Auch Nachbarn, von denen ich schon länger nichts gehört hatte, riefen an und fragten, ob alles in Ordnung sei. Die meisten haben beschädigte Häuser. Viele sind verängstigt und befürchten weitere Beben.

Vor ein paar Tagen haben wir mit unseren Nachbarn noch Erdbeeren und Kirschen gepflückt, um Marmelade zu kochen. Nun räumen wir gemeinsam den herabgefallenen Putz und die kaputten Ziegel weg. Angesichts dieses Naturereignisses, das uns zu Schicksalsgenossen gemacht hat, fühle ich mich diesem Ort und seinen Menschen noch mehr verbunden. Man spürt deutlich, was Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft auch in schwierigen Zeiten bedeuten. Wenn wir schon bei ein wenig Rütteln so einen Schrecken bekommen haben, wie viel schlimmer muss das bei den wirklich starken Erdbeben gewesen sein. Man mag es sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn Häuser zusammenfallen.


Als ich vor langer Zeit in meiner Kindheit hier in den Ferien war, gab es einen beliebten Schlager von Bruce Low:

Das alte Haus von Rocky Docky hat vieles schon erlebt

Kein Wunder

Daß es zittert

Kein Wunder daß es bebt

Das Haus von Rocky Docky sah Angst und Pein und Not

Es wartet jeden Abend auf′s neue Morgenrot

Mit diesen Worten könnte ich jetzt auch unser Haus besingen. Soweit ich informiert bin, hat das Paulischer Haus noch keine vergleichbare Beschädigung durch Erdbeben erlebt. Wir werden seine Risse kitten und seine beschädigte Hülle reparieren. Der Riese, der erwacht ist, es gepackt und geschüttelt hat, fällt hoffentlich wieder in den Schlaf der Ewigkeit.


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