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TemesWAR und TemesWIRD

Ein Projekt entsteht


Zu einer Jahreszeit, in der wetterbedingt eine Städtereise nicht unbedingt erstrebenswert erscheint, erkundeten Herbert Habenicht und ich die Stadt, in der wir unsere Kindheit verbracht haben, die Stadt, in der auch unsere Eltern und Großeltern gelebt und gewirkt haben. Temeswar also, den Ort, der uns nach wie vor am Herzen liegt.

Uns beschäftigt eine Idee, die langsam Gestalt annimmt. Viel ist schon über die zukünftige Kulturhauptstadt geschrieben worden und noch mehr wird zur Zeit geplant im Hinblick auf das mit Spannung erwartete kommende Jahr. Wir wollen unseren Beitrag dazu in Form eines Projekts leisten, das unserer Identität entspricht.

Nach all den Jahren sind wir trotzdem Temeswarer Kinder geblieben. Deshalb schwebt uns eine Stadttour auf spielerische Weise vor, in der Kompetenz mit Entdeckerfreude verbunden sind. So ist der ungewöhnliche Aufenthalt im November als Arbeitsbesuch zu deuten, bei dem wir für unser Vorhaben, das wir ihnen hier vorstellen, ein gutes Stück weiter gekommen sind.


In der Inneren Stadt, die wir mit Notizblock und Stift bei Regen und Kälte durchstreiften, hangelten wir uns von einer Sehenswürdigkeit zur anderen. Wir suchten Perspektiven und Wegmarken, die im Lauf der Tour von einem Gebäude zum anderen führen werden. Es gibt eine Menge geschichtsträchtiger Häuser im Barockstil, Jugendstil oder Eklektizismus. Hier sind wir beim Dikasterial Palais angelangt, vor dem ein Stadtmodell der historischen Innenstadt steht mit der barocken Prägung zur Zeit der Habsburger. Schon auf den ersten Blick sieht man das rechtwinklige Raster der auf dem Reißbrett entstandenen Straßen. Wenn man genauer hinschaut, bemerkt man rechts ein hufeisenförmiges Gebilde, die Theresienbastion, ein Relikt der habsburgischen Verteidigungsanlagen.



Vor allem die Kinder werden den Stop an der Theresienbastion mögen, denn dort steht eine echte Kanone als Erinnerung an die Kämpfe um Temeswar. Sie zeigt in Richtung Altstadt, wo sich rechts im Bild die evangelische Stadtkirche, die 1839 wohlweislich turmlos gebaut worden war, um nicht unter Beschuss zu geraten, hinter den Bäumen versteckt, befindet. Dass die Vorsichtsmaßnahme angebracht war, zeigt eine steckengebliebene Kanonenkugel im Mauerwerk neben der Kirche. Der Kirchturm wurde erst 1902 hinzugefügt, als die Kriegführung sich verändert hatte und man begann, die alte Stadtbefestigung abzutragen.



Heute entbrennen die Schlachten auch in den sozialen Medien, so zum Beispiel der Kampf um ein markantes Temeswarer Wahrzeichen. Dass die fântâna cu peşti am Corso, der Temeswarer Fischbrunnen, nach so langer Zeit ausgerechnet jetzt der wartenden Öffentlichkeit präsentiert wurde, war purer Zufall.

Wir haben als Kind noch die Stalin-Sternenform des Brunnens aus der Zeit des Kommunismus erlebt. Damals freuten wir uns an dem herausspritzenden Wasser.

Nach der Revolution gewöhnte man sich im Lauf der Jahre an die runden Einfassungen, die zwar ideologisch unbelastet waren, aber die die als Kind so geliebten Fische in unerreichbare Sicherheit brachten. Ein anlässlich der Heimattage im Juni 2019 aufgenommenes Foto zeigt, dass der Brunnen damals schon das gerade wieder enthüllte Aussehen hatte. Die so heftig kritisierte Farblichkeit, Spötter nannten sie in Anspielung an tönerne Töpfe culoarea oalelor de sarmale mutet zugegebenermaßen etwas fremd an. Doch ansonsten sieht die fântâna cu peşti unverändert aus.



Von den Fischen zu den anderen Wasserwesen, den Reptilien. Der türkische Reisende Ewliya Tschelebi schreibt 1660: Tamasvar liegt in den Morästen des Temeschflusses wie eine Schildkröte im Wasser. Ihre vier Türme stehen wie ihrer Füße, das Schloß ist der Kopf und die Stadtfestung der Körper. Das kann man an diesem Stadtmodell, das am Domplatz steht und Temeswar in der Zeit der osmanischen Besetzung zeigt, gut erkennen.



Am Rand der Inneren Stadt befindet sich eine Sehenswürdigkeit, an der ich oft vorbei gegangen bin, ohne sie zu beachten. An der Ecke Proclamatia de la Timişoara-Straße/ Strade F. Griselini befand sich nach Wiener Vorbild auch im ehemaligen Klein Wien eine Art Gilden- oder Gesellenbaum. Der Stock im Eisen ist ein von einem Eisenband festgehaltener, mit dünnem Blech überzogener Baumstamm, in den ab 1828 die Schlossergesellen, die auf ihrer Walz nach Temeswar gekommen waren, Nägel eingeschlagen haben. Das waren oft kunstvolle Nägel, deren Köpfe mit Initialen versehen waren, so dass man nachvollziehen konnte, wer sich da hämmernd positioniert hat. So schlug zum Beispiel der Schlossergeselle Ignác Weiszberger, der der auf dem Carol I.- Boulevard wohnte und arbeitete, dort einen Nagel ein, wie in dem aufschlussreichen Buch Auf den Spuren des jüdischen Temeswar von Getta Neumann nachzulesen ist.

Das restaurierte Original befindet sich heute im Banater Museum, die Kopie vor Ort ist nicht spektakulär, bezeugt jedoch Temeswars Vergangenheit, ist eine Spur von dem, was hier einmal war.


Schließlich kommen wir aber von der geplanten Route mit den berühmten Sehenswürdigkeiten ab. Auf der Suche nach persönlichen Erinnerungen überqueren wir die Bega über die Trajansbrücke in die Josefstadt. Wir wandeln zunächst auf den Spuren unserer Schulzeit, die wir beide in der Școala Generală Nr.8 verbracht haben. Beide hatten wir nämlich die geschätzte Lehrerin Paula Knopf, wenngleich in verschiedenen Jahrgangsstufen. Auf dem Weg zur Schule biegen jedoch an der Maria spontan ab. Es ist zu interessant, was sich da in der Dojagasse tut. Dort leuchten uns frisch renovierte Häuser entgegen, die wie Farbtupfer an dem grauen Novembertag wirken.



Vor allem die Eckhäuser dieser in die Elisabethstadt führenden Straße beeindrucken. Eine Fülle von Farben und Formen, schmiedeeiserne Balkongeländer und kunstvoll gestaltete Eingangstore, hie und da sogar ein Zwiebelturm, der an einen bayerischen Kirchturm erinnert, zeigten sich uns auf dem Weg Richtung Lahovary-Platz (Piața Nicolae Bălcescu).



Beim Blick durchs Fenster eines der Eckhäuser entdecken wir eine Kneipe, in der man selbstgebrautes Bier verkosten kann. Sie ist zwar leider geschlossen, doch schon der Anblick weckt Neugier auf so eine urige Lokalität. Den Besuch sparen wir uns für das Jahr der Kulturhauptstadt auf.



Das kleine VIM-Bistro, auch an einer Kreuzung gelegen, hat dagegen geöffnet. Auf der Empore sitzend fühlt man sich wie in einem Wohnzimmer, bis zum letzten Accessoire ist es geschmackvoll und gemütlich. Wenn man nicht weiter müsste, würde man eines der in den Regalen vorhandenen Bücher zur Hand nehmen und schmökern. Doch es geht weiter nach einer duftenden und dampfenden Tasse grünen Tee und Cappuccino.



Zum Haus in der Dojagasse Nr. 5 kehrten wir nochmal zurück, nachdem Herbert bestätigt bekam, dass seine Familie zeitweise dort gewohnt hatte. Das wunderschöne Gebäude, das von Ernö Neuhaus, einem der bedeutendsten Architekten Temeswars in den Jahren 1905-06 im Sezessionsstil errichtet wurde, wird gerade frisch herausgeputzt.



Die Entdeckungen ließen nicht lange auf sich warten. Schon ein paar Häuser weiter stießen wir hier wieder auf Familiengeschichte. Im Zuge unserer Beschäftigung mit dem, was in Temeswar mal WAR, hatten wir schon im Vorfeld die Generation vor uns befragt. Mein Vater war in seiner Jugend oft bei Freunden in diesem Haus in der Dojagasse ein und ausgegangen. Für ihn war es das Philipps-Haus. Wie Spurensucher betätigten wir uns und freuten uns wie Schneekönige, als wir das Gebäude identifiziert hatten.


Gleich gegenüber nochmal ein Gebäude, an dem ich persönlich interessiert bin. Es beherbergte die Sporthochschule, an der mein Großvater Dekan war und meine Mutter 1963 ihr Diplom erwarb. Wie viel hatte sich bei uns zu Hause um diese Institution gedreht, ohne dass ich je ein Bild davon vor Augen gehabt hatte.



Eine legendäre Gaststätte fanden wir an der Ecke Romulus/Odobescu-Straße. Dort befand sich die Wirtschaft von Földesi Sarolta, der berühmten Schari-Neni, die Mitte der 30er Jahre hier schaltete und waltete. Heute steht auf der Tür “Restaurant Intim", ein Hinweis vielleicht, dass es hier auch ein berüchtigtes Etablissement gab, wie man selbst heute noch Gerüchte hört? In Herberts Kindheit in den 70er Jahren holte man hier jedenfalls Bier, meinte er. Die Schari-Neni lag damals nämlich schon seit vielen Jahren auf dem Josefstädter Friedhof.



Unsere Spurensuche in dem Viertel endete an einem besonderen Ort kurz vor dem Lahovary Platz. Er nennt sich Muzeul Consumatorului Comunist, was irreführend ist, wenn man ein richtiges Museum erwartet. Vielmehr handelt es sich um eine alte Villa, in die man über einen Innenhof voller Stühle und Tische gelangt. Im Eingangsbereich landet man sogleich in der Bar, in der von kommunistischer Mangelwirtschaft noch nichts zu merken ist. Eine Fülle von Spirituosen und Alkoholika bietet sich dem, der sich für die Dinge aus der Ceauşescu Ära interessiert. Das "Museum", das im Keller liegt, in dem die Gebrauchsgegenstände von damals, Möbel, Spielsachen oder Küchenutensilien zusammengewürfelt sind, ist nicht geeignet, Nostalgie aufkommen zu lassen. Vielmehr gelangt man zur Erkenntnis, dass Glück nur bedingt etwas mit Konsum zu tun hat.



Nach stundenlanger Erkundung der Stadt belohnen wir uns mit einem Besuch in der Oper. Das Musical Scripcarul pe acoperiș (Anatevka), das heute auf dem Programm steht, ist in Temeswar besonders beeindruckend. Weil es fulminant inszeniert ist und die Darsteller das Publikum durch wunderschöne Darbietungen begeistern. Anatevka ist in Temeswar auch deshalb so anrührend , weil man an das vielfältige jüdische Leben, das die Stadt geprägt hat, denkt. Wir denken auch an den Exodus der deutschen Minderheit, an die Auswanderung unserer Familien während der kommunistischen Zeit.

In der Pause, während der das Selfie entstand, fällt das lebendige Temeswarer Opernpublikum auf, das sich aus allen Altersstufen zusammensetzt. Es sind viele junge Leute da, sogar Kinder in Begleitung ihrer Eltern, auch ältere Herrschaften und Senioren.


Am letzten Abend unseres Aufenthalts ERLEBEN wir das Dschungelbuch im deutschen Theater. Das Wort ist gerade stark genug für die Entführung in die Welt des Dschungels und der Tiere. Und der Kindheit, denn um uns herum wimmelt es von Schülern, die mit Mogli und seinen Freunden begeistert mitfiebern.

Wie schön wäre es unseren Kindern aus der Münchner Tanzgruppe, die zu den Heimattagen im Juni in Temeswar sein werden, auch dieses Stück zu zeigen.


Wir gehören zur letzten Generation, die Temeswar und das Banat als Kinder noch erlebt haben. Im Dialog mit der Generation vor uns versuchen wir möglichst viel Wissen zu bewahren und Geschichten zu sammeln, um das, was einmal in Temeswar war, zu dokumentieren.

Wir möchten mit unserer Stadterkundung sowohl Temeswarer ansprechen, als auch Temeswarer, als auch Gäste, die sich für die Stadt an der Bega im Jahr der Kulturhauptstadt interessieren.

Daher planen wir unsere Rundgänge, die sowohl real als auch gedruckt als auch virtuell angedacht sind, der mehrsprachigen Tradition entsprechend in verschiedenen Sprachen.


Das Logo beinhaltet auf englisch ein Wortspiel. Spielerisch und leicht wollen wir dementsprechend in unserem Temeswar auch unterwegs sein. Das oberste Kriterium ist, die Leute, die mitgehen, fundiert zu informieren und zu begeistern.

Fotomontagen: Hans Rothgerber

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