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Dejá-vu an der Paddington Station


Selfie mit Vicky und Paddington in London

Alle Heranwachsenden haben ihre Idole. Wenn ich mich mal wieder jünger fühle als ein Blick in den Ausweis es erlaubt, denke ich an einen der Helden meiner Jugendzeit, den Apachenhäuptling Winnetou. Die Romane von Karl May habe ich noch in Temeswar verschlungen, nachdem mein Vater mir einen nach dem anderen aus Deutschland geschickt hatte. Ich verbrachte Tage, Wochen und Monate in der Scheinwelt des wilden Westens, malte mir aus, wie es wäre, mit Winnetou durch die Prärie zu reiten oder die Friedenspfeife zu rauchen. Noch kannte ich die Filme mit Pierre Brice nicht, doch der Häuptling der Apachen war für mich auch so schön, edel und gut und sein Tod in Band drei brach mir das Herz. Ich weiß noch, wie ich lange und still vor mich hin litt, fassungslos vor der Hinterhältigkeit einen so wertvollen Menschen zu ermorden. Während ich heute die Debatte um seine Demontage mit Betroffenheit verfolge, denke ich daran, wie gefährlich die heutigen Zeiten für alte Helden sind.


Eine der Lieblingsfiguren meiner Kinder ist der tapsige “Paddington Bear” aus Peru, der von Michael Bond vor nun schon über 60 Jahren geschaffen wurde.

Im gleichnamigen Film aus dem Jahr 2014 wird zu seiner eigentlichen Geschichte hinzugefügt, dass er seine Heimat aufgrund einer Umweltkatastrophe verlassen musste. Er wird zum liebenswerten Prototypen des Emigranten, der aus existentiellen Schwierigkeiten kommend ein neues Zuhause sucht und in London nach Irrungen und Wirrungen bei der typisch britischen Familie Brown auch findet.

Schon meine inzwischen erwachsenen Kinder liebten dieses Buch und den Bären, dessen Markenzeichen ein roter Schlapphut, ein blauer Dufflecoat und ein Koffer voller Sandwiches mit Orangenmarmelade ist. Bei einem London-Aufenthalt von Benno-André, Isabel und Niklas mit ihrem Vater in den 2000er Jahren, war ein Besuch des Bahnhofs Paddington Station, wo die Statue des prominenten Kinderbuchhelden steht absolut verpflichtend.


Nun ist unsere Jüngste gerade noch in dem Alter, sich für eine solche pelzige Berühmtheit zu interessieren. Erstaunlich genug angesichts der zahlreichen Gamer und YouTuber, die ihm Konkurrenz machen. Und das Schicksal bzw. die Ferienplanung hat uns heuer auch nach London verschlagen. Also beschließen wir das Denkmal von Paddington zu suchen, diesmal mit Vicky. Sie hat als Reisebegleitung sogar einen alten Kuscheltier-Paddington dabei, mit dem sie vor der Statue ein Foto machen möchte.

Der schöne Viktorianische Bahnhof Paddington Station empfängt uns am Nachmittag "crowded", also überfüllt und voller Reisender. Paddington, der prominente Gestrandete, nach dem wir Ausschau halten, ist jedoch nirgends zu sehen. Die Leute hasten geschäftig an uns vorbei, so wie damals, als der Bär aus Peru dort mutterseelenallein in einer neuen unbekannten Welt gelandet war.

Es ist Vickys Anliegen, also übernimmt sie die Führung und geht entschlossen zur Information und fragt: "Excuse me please, where is the statue of Paddington Bear?" Der Bahnhofsangestellte im Infostand antwortet routiniert und ohne eine Miene zu verziehen, so als würde ihm die Frage jeden Tag tausendmal gestellt: "platform one". Na klar, wo sonst, das hätten wir uns auch denken können, denn es steht auch so im Buch. Wir drängeln uns durch die am Bahnsteig Ankommenden, die in die entgegengesetzte Richtung streben. Mich befällt ein mulmiges Gefühl, als hätte ich das alles schon erlebt. Es ist seltsam, denn ich bin zum ersten Mal hier. Während Vicky weiter läuft, halte ich inne und bleibe stehen. Der Zug, der gerade angekommen war, hatte sich inzwischen geleert und alle Reisenden waren ausgestiegen und vorbei geeilt.


Ich sehe nur noch ein Mädchen, etwa so alt wie meine Tochter heute. Sie trägt keinen Duffelcoat sondern eine "Bundiță", eine fellgefütterte Jacke, die in den Siebzigern in Rumänien begehrt war. Für die man damals stundenlang Schlange stehen musste. Auf dem Kopf keinen roten Schlapphut, sondern eine gehäkelte Schildmütze, die von einer Frau in Temeswar zum Abschied handgefertigt worden war. In der Hand hält sie einen kleinen Koffer aus Kunstleder, der mit zwei Schnallen verschlossen ist. Obwohl sie von Vater und Onkel erwartet wird, fühlt sie sich am Münchener Hauptbahnhof genauso fremd wie der Bär aus Peru in London.

"Mama komm, ich habe ihn gefunden" höre ich auf einmal die Stimme von Vicky. Als mich meine Tochter fragt, was mit mir los sei, beruhige ich sie. "Alles gut, ich musste nur daran denken wie es deinem Bären erging und ich kann ihn so gut verstehen.''

"Natürlich! Du bist so freundlich und verständnisvoll wie Mrs. Brown im Film und siehst auch so aus wie die Schauspielerin", sagt sie. Ich wische meine Tränen weg und muss lachen.

Wir gehen zu Paddington und machen ein Selfie. Wir beschließen so schnell wie möglich ins Hotel zu fahren und den Film zusammen anzusehen. Ich werde ihr erzählen, was mir alles Lustiges passierte, als ich neu in München war. Und wie sehr auch ich mir wünschte, ein neues Zuhause zu finden.


Müssen wir uns um Paddington auch Sorgen machen? Wer weiß das schon?! Wir können nur hoffen, dass der liebenswerte Bär in Sicherheit ist und keiner Cancel Culture zum Opfer fallen wird. Winnetou hätte einfach auch auswandern sollen!


Blick aus unserem Hotel auf das Themse-Ufer, Westminster Bridge und das House of Parliament mit Big Ben

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