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Die Welt steht Kopf

Gedichte von Edith Achim (geb. Zippel), Fotos Hans Rothgerber


Redaktionelle Bemerkung von Astrid Ziegler


Dicht unter dem Alltag liegt die Poesie.

Man braucht die Schicht des Alltäglichen nur zu ritzen,

dann kommt sofort Poesie zum Vorschein

Eugene O'Neill


Manchmal schreiben uns Leser, die, sei es durch Empfehlung, über die sozialen Netzwerke oder zufällig auf unsere Banat-Tour Seite gestoßen sind.

Nach den Heimattagen der Banater Deutschen in Temeswar nahm Frau Edith Achim Kontakt zu mir auf. Sie schickte mir Gedichte, die unter dem Eindruck des Wiedersehens mit der Stadt ihrer Jugend entstanden sind.

Frau Achim ist im Jahr 1946 in Neubeschenowa geboren, studierte in Temeswar an der Universität Germanistik und war in Piatra Neamț und Bukarest als Lehrerin für Deutsch tätig. Seit 1990 lebt sie mit ihrer Familie in Stadtbergen bei Augsburg.

Zwischen uns entspann sich eine rege Korrespondenz, in deren Rahmen Edith Achim ein ganzes Konvolut mit Gedichten schickte, die sie in den letzten Jahren, vor allem in der Zeit der Corona-Restriktionen, geschrieben hatte. Es gliedert sich in die Themenkreise "Flur und Wald", "aus dem Leben", "Corona-Gedichte" und "Zeitgeschehen".

Dieses Werk entstand in der Abgeschiedenheit des Lockdowns wie auch unsere Banat-Tour Seite.

Edith Achim hatte zunächst nicht für die Öffentlichkeit geschrieben, sondern nur für sich und ihr nahestehende Menschen. Sie verarbeitet in ihren Gedichten Alltagserlebnisse, den Aufenthalt in der Natur, Gedanken über die Corona-Zeit und die gesellschaftliche Entwicklung danach. Sie entschloss sich, sie aus der "Schublade" einem breiteren Publikum, den Lesern unseres Blogs, zugänglich zu machen.


Wir wählten zwei Beispiele aus der sensiblen Naturlyrik, die zur Zeit und unter dem Leidensdruck des gesellschaftlichen Stillstands entstanden. Außerdem zwei Gedichte, die die Auswirkungen der Pandemie als Thema haben. Schließlich, aus aktuellem Anlass der Kulturhauptstadt, auch ein Gedicht über Temeswar. Auch Hans Rothgerber öffnete eine Foto-Schublade und steuerte einige seiner schönen Bilder bei, so dass reizvolle Bild-Text Kombinationen entstanden.



Auf den Kopf gestellte "Strada Florimund Mercy" in Temeswar

Die Welt steht Kopf


Die Welt steht Kopf und alles geht bergab

in Alltag, Fußball, Politik und anderen Bereichen.

Es schwelt mal hier, mal dort, man stellt auch neue Weichen.

Corona zieht uns alle tief hinab.

Vielleicht geht ́s ja im Sommer besser.

Doch nur vielleicht! Das ist kein Trost.

Und trüb sind, wo wir fischen, die Gewässer.

Im Herbst, da geht es ja von vorne los.


Das ist die jetzige Prognose.

Gereizt sind Menschen, dem Zerreißen nah.

Die Existenzen schweben nur noch lose.

Die Viren bleiben weiterhin ja da.


Mein Zukunftsbild ist heftigst angeschlagen,

ein Zerrbild dessen, was das Leben einmal war.

Die Welt ist wie vom Blitz erschlagen,

von Gittern eng umgrenzt, wo einmal Weite war.


Es gärt und schwelt in diesem Lebenstopf.

Normalität ist weit entfernt - die Welt steht Kopf.


(21.04.2021)



Der "Pestarzt" anläßlich der Wachablösung auf dem Temeswarer Domplatz

Schnäbel


Es scheinen Raubvögelschnäbel zu sein,

die Masken, die wir alle tragen.

Bloß bleich, ja fast blutleer wie vom Eingesperrtsein

und das ja nicht erst seit Tagen.


Und mancheiner lauert, um etwas zu sagen,

dass andre die Schuld an dem Unheil wohl tragen.

Sie öffnen den Schnabel und reißen ihn auf

und stürzen sich auf ihre "Gegner" gleich drauf.


Mit tierischer Kraft doch mit menschlichem Laut,

dass einem allein schon beim Zuhören graut.

Sie treiben den Keil zwischen Generationen

und sehen auch sonst nur verdächtige Zonen.


Die Welt ist wohl nicht nur pandemisch erschüttert.

Auf allen Kanälen wird Feindschaft getwittert.

Weh der Gesellschaft, die so etwas hört.

Ihr ganzes Gefüge wird dadurch zerstört.


(13.04.2021)



Septembergruß


Es schien ein gelber Schmetterling zu sein,

was ich da fliegend aus dem Augenwinkel sah.

Genau wie ich, im Wald allein.

Wie schön dacht ́ ich, dass er auch da.

Doch als mein Blick sich hob geschwind,

sah ich, es war ein gelbes Blatt im Wind.


(14.09.2020)




Farbige Blätter an der Bega

Kupferfarben


kupferfarben hängen die Blätter

an meinem vor'm Fenster stehenden Baum.

Und unabhängig von jedem Wetter

sind sie so schön wie ein herrlicher Traum.


Erst dunkelgrün und schattenspendend,

dann leicht getönt in goldgelber Pracht,

hat sich die Farbe zum Kupfer gewendet

und das fast über Nacht.


Immer mehr fallen und fallend verlassen

sie ihren Ursprungsort,

um dann letztendlich noch zu verblassen,

im ewigen Kreislauf sich wandeln dann dort.


Dankbar betrachte ich diesen Begleiter,

der mich beschützt und der mich erfreut.

Denn dieser Baum steht immer noch weiter,

ganz gleich wie ́s mir geht in Zukunft und heut ́.


(19.10.2021)



Der Temeswarer Domplatz im Abendlicht im Juni 2023

Meine Stadt


Welch berauschende Düfte

durchströmen die schillernden Lüfte.

Atemberaubend, sich selbst verzehrend

geben die Lindenblüten ihr Geheimnis preis.

Schwerelos zieht ihr Duft durch die Straßen.

In Temeswar ist es heiß.

Das Dauerbach-Palais auf der Lloyd-Zeile

Temeswar!

Ist es denn wahr?

Dass Temeswar mal meine Stadt war?

Der Traum von Lindenblüten und nie endender Jugend,

von Fröhlichkeit und lebendig sein.

Die Stadt, die daraus machte eine Tugend.

Die Lloyd-Zeile in einer Aufnahme von der "Pepiniera"

Temeswar!

Mein Haar ist ergraut

und manche Kerben hat das Schicksal geschlagen.

Doch Du sprühst vor Leben.

Dich werde ich immer im Herzen tragen.


Temeswar…


(Temeswar, 14.06.2019)

Menschenmenge vor der Oper anläßlich der Heimattage der Banater Deutschen 2023

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