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„Warum kommst du jetzt erst?“

Redaktionelle Bemerkung von Astrid Ziegler


Thomas Dapper, der die Leser des Blogs der Banat-Tour schon in der Kurzgeschichte über die Trauben seines Großvaters in den serbischen Teil des Banats, von wo die Familie seines Vaters stammt, mitgenommen hat, teilt eine neue Episode Familiengeschichte, die zugleich Nachkriegsgeschichte ist, mit uns. 

In dem Text, der, wäre es ein Film, an ein Road-Movie denken lässt, das Thomas Dapper mit seiner Tante an die Orte ihrer Kindheit zu dem Waisenhaus in Stari Lec, unweit der Grenze zu Rumänien führt, geht es um seinen Vater Peter. Dieser war nach dem Verlust von Eltern und Großeltern mit anderen Waisen, die das Vernichtungslager Rudolfsgnad überlebt hatten, in dem Heim aufgewachsen. Von dort findet Dapper durch glückliche Umstände den Heimleiter von damals. Nach dem Krieg hatte dieser Mann, damals nicht viel älter als seine Zöglinge, versucht, den deutschen und serbischen Waisenkindern eine den Umständen entsprechend gute Behandlung zukommen zu lassen. Der alte Mann empfängt den Sohn seines ehemaligen Zöglings mit dem bezeichnenden Satz: “Warum kommst du erst jetzt?" und kann endlich die vielen Fragen, die Thomas in Bezug auf seinen Vater hat, beantworten.

Die Geschichte einer Reise in den serbischen Teil des Banats auf den Spuren des Vaters, voller Rückblenden, Orts- und Personenwechsel, inszeniert wie ein Krimi, von jemandem niedergeschrieben, der nicht nur Unglaubliches zu erzählen hat, sondern auch schreiben kann. Eine Geschichte, die sehr unter die Haut geht, über die Vergangenheitsbewältigung eines Sohnes, aber auch über Menschlichkeit, Versöhnung und Hoffnung.


Thomas Dapper, Jahrgang 1969, schloss 1994 die Kaskeline-Filmakademie in Berlin ab und leitete den Aufbau einer Casting-Redaktion und im Anschluss die Drehbuchabteilung einer wöchentlichen Serie des WDR. 2012 nahm er mit seinem Film "Wege nach Mramorak", in dem er das Trauma seiner Familie mit historischen Begebenheiten in den Jahren 1941 bis 1948 verbinden konnte, an der historischen Tagung "Vom Verschwinden der deutschsprachigen Minderheit aus Jugoslawien" im österreichischen Bad Radkersburg teil.

Als Referent für Öffentlichkeitsarbeit bei der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen trug Dapper aktiv dazu bei, das Bewusstsein für die Geschichte und Kultur der deutschen Minderheiten zu schärfen. Er griff eine Idee auf, die im Vertriebenenbereich naheliegend ist: Die gegenseitige Vernetzung, Kommunikation und Nutzung von Synergieeffekten der unterschiedlichen Vertriebenengruppen und -organisationen, die bei allen Unterschieden auch viel Gemeinsames haben. Seine Arbeit ist geprägt von einer tiefen Verbundenheit mit seiner Herkunft und einem starken Engagement für Aufklärung und Versöhnung.

Dapper ist er Mitglied im Bundesvorstand der Donauschwaben.


Mein Vater stehend, dritter von links, neben Milan Galić in der Mitte 
Mein Vater stehend, dritter von links, neben Milan Galić in der Mitte 

„Warum kommst du jetzt erst?“ Mit der Frage des alten Mannes, vor dem ich hier stand, hatte ich nicht gerechnet. Für mich hatte lange festgestanden, dieser Mann kann seit Jahrzehnten nicht mehr am Leben sein. Nun stand ich vor seinem grün gestrichenen Haus in Plandište, (dt. Zichydorf) Banat, Serbien.


Bevor Blagoje Blaži, den Namen kannte ich kaum eine Stunde, mir seine Frage unter Tränen stellen konnte und mich zu einer spontanen und festen Umarmung an sich riss, war ich mit meinen Freunden Mikan und Milica vor seinem Haus angekommen und hatte mein Auto im spärlichen Schatten eines mageren Baums abgestellt. Wir hatten das grüne Haus des alten Mannes leicht gefunden, dank der Wegbeschreibung des Direktors im Heim für geistig Behinderte in Stari Lec.


Ich war ausgestiegen und hatte an der Haustür die Klingel betätigt. Für die Wartezeit konnte ich kein Gefühl entwickeln, meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, Herzrasen und eine Flut von Erinnerungen an Erzählungen meines Vaters. Völlig wirr und durcheinander. Als die Tür aufging, sagte ich mein „dobar dan!“ und fragend in gebrochenem Serbisch „Blagoje Blažić“?


„Da! I vi?“ Der dürre alte Mann muss sich über den fremden jungen Mann aus einem fernen Land gewundert haben. „Ja sam Thomas Dapper“. „Peter Dapper?“ „Moi otac“. Nachdem er meine Frage mit ‚ja‘ beantwortet hatte, wollte er direkt wissen, wer da so unerwartet vor ihm stand und ihn sprechen wollte. Auf die Nennung meines Namens nannte er wie aus der Pistole geschossen den Namen meines Vaters, den ich natürlich bestätigte. Daraufhin riss er mich an sich, Tränen schossen ihm aus den Augen, dann die Frage „warum kommst du jetzt erst?“ Wie ein Opa, der seinen Enkelsohn allzu lange vermisst hatte. Wir aber lebten 2000 Kilometer völlig unbehelligt voneinander entfernt, ohne einen Gedanken an den anderen zu verschwenden.


In der Woche vor unserer völlig unverhofften Begegnung hatte ich meiner Patentante, am Rande von Dreharbeiten an Orten im Banat, die Tanten und Onkels meines Vaters nie wieder betreten wollten, versprochen, mit ihr nach Stari Lec, auf Deutsch Alt-Letz, sieben Kilometer von der Grenze nach Rumänien in der Banater Prärie gelegen, zu fahren und dort das ehemalige Waisenhaus meines Vaters aufzusuchen.


Auf dem Weg nach Zrenjanin, der Hauptstadt des serbischen Teils des Banats, führt der Weg nach Stari Lec von Süden her durch Vršac / Werschetz und Plandište / Zichydorf. An einer einsamen Tankstelle im Nirgendwo, die einem amerikanischen Roadmovie entsprungen schien, fragten uns zwei serbische Polizisten, was wir hier in der Grenzregion zu suchen hätten, zudem lebten hier ja sogar Fuchs und Has‘ zu weit voneinander entfernt für GuteNacht-Wünsche. Meine Tante hatte ihre Serbischkenntnisse in Mramorak in den vergangenen 14 Tagen aufgefrischt und konnte den Polizeibeamten unser Anliegen erklären.


Bahnhof Stari Lec
Bahnhof Stari Lec

Wie verwandelt, halfen sie uns nun, den richtigen Weg zu finden und fuhren voraus, blieben pflichtbewusst am Abzweig nach Stari Lec stehen, kamen noch einmal zu uns und erklärten, hier rechts seien es noch zwei Kilometer und dann würden wir das Schloß schon sehen. Aber da sei heute kein Waisenhaus mehr. Nach ihrem „sve najbolje und srecan put“ (Alles Gute und gute Reise) fuhren die beiden Polizisten weiter Richtung Zrenjanin. Ich vermutete, sie hätten es auf Schmuggler abgesehen, in der Hoffnung auf ein bisschen Bakschisch. Wir, meine 74 Jahre alte Tante und ich müssen sie aus ihrem Alltag gerissen und vielleicht auch mit unserem Anliegen gerührt haben, denn für diese Menschen ist Deutschland Lichtjahre entfernt und Deutsche mit Wurzeln in Serbien begegneten ihnen höchst selten. Schmuggler und andere Grenzverletzer sowie Verkehrssünder, das war und dürfte noch heute das Kerngeschäft der Polizeibeamten in dieser gottverlassenen Gegend sein.


Die Straße nach Stari Lec lässt den Ort kaum erahnen. Die Baumreihe auf diesem mit dem Lineal begradigten Erdboden markierte allerdings unser Ziel. Der Bahnhof tauchte in unserem Gesichtsfeld einige hundert Meter später auf, wirkte verlassen und wieder wie ein Szenenbild aus einem Roadmovie. Ich musste kurz anhalten, weil mein 2008 bereits seit eineinhalb Jahren pflegebedürftiger Vater als Jugendlicher von hier aus nach Deutschland aufgebrochen sein musste. Ein Handyfoto zeigt die Einsamkeit dieses verwaisten Bahnhofs. Dahinter vollzieht die Straße erst eine Links- dann eine Rechtskurve an einer Mauer entlang. Hinter der Mauer ist tatsächlich ein Schlösschen zu erkennen. Aber links gegenüber, an einem ersten kleinen Sträßchen links gelegen, befindet sich ein noch kleineres Schlösschen. Wir erreichten unvermittelt den Haupteingang und das Pförtnerhäuschen am Ende der langen Betonwand. Der Pförtner kam direkt auf uns zu. Es war Sonntag. Der Direktor abwesend. Aber er werde uns unter der Woche sicher sehr gerne empfangen und uns alles erklären und ja, er könne auch Englisch. Meine Tante und ich durften einen Blick in den Park werfen und die Toiletten aufsuchen. Wir gingen noch die Straße ins Dorf zu Fuß weiter und konnten kein Leben feststellen. Also brachen wir zu unserer vier bis fünf Stunden dauernden Rückfahrt durch das halbe serbische Banat nach Mramorak auf.


Mich hatte Stari Lec elektrisiert. Die vielen Geschichten meines Vaters von seinen Jahren im jugoslawischen Waisenhaus hatten sich hier ereignet. Hier kam mein Vater hin, als er von seinen Geschwistern in Žitište / Sankt Georgen getrennt worden war. Die Waisenkinder, die das Vernichtungslager Rudolfsgnad überlebt hatten, waren im Frühjahr 1948 nach Žitište gebracht worden. Dort mussten sie sich ihrer gesamten, zerlumpten Kleidung, die überwiegend aus verdreckten Fetzen und allerlei Ungeziefer bestand, entledigen. Als alle Kleidungsstücke einen großen Haufen bildeten, kam Benzin als Brandbeschleuniger zum Einsatz und schon brannten Abermilliarden Läuse, Flöhe, Nissen und Eier derselben nieder in den wertlosen Kleidungsresten der Logoraschen. Den Kindern und Jugendlichen wurden die Haare geschoren, Jod auf die kahlen und von sämtlichen Parasiten befreiten Stellen gegeben. Danach ging es für die Überlebenden und völlig abgemagerten Kinder und Jugendlichen in die Bega zu einem ausgiebigen Bad.


Streng kommunistisch-planwirtschaftlich wurden die ihrer Eltern entledigten Kinder neu eingekleidet. Ein Oberteil, eine Hose, einmal Unterwäsche und keine Schuhe, weil ja der Sommer vor der Tür stand. Die einzige Kleidung war nach wenigen Stunden wieder dreckig, weil der Spieltrieb der hungernden Kinder erstaunlicherweise noch reichlich Leben anzeigte. An den ersten Tagen, bekamen die Waisenkinder dünne Suppen zu essen. Bald kam Brot dazu.


Eines nicht allzu fernen Tages wollte kein Geringerer als Josip Broz Tito sehen, wie gut sich die von ihm ihrer Eltern beraubten Kinder in Pionierhemdchen machten. Die deutschen Kinder sollten nach wenigen Tagen in Žitište Partisanenlieder einstudieren und dem Marschall Tito vorsingen. Zur Begrüßung des größten Partisanenführers aller Zeiten (GröPaZ) durfte nichts anderes gesungen werden als etwa ein Ciao Bella Ciao oder die Internationale. Doch die Kinder banatdeutscher Eltern waren gläubige Christen und hatten einen immens hohen Preis in Rudolfsgnad / Knicanin für die Taten der Besatzer aus Nazi-Deutschland „bezahlt“, also kam immer auch ein „großer Gott wir loben dich“ aus den Kehlen, voller Inbrunst, Stolz und Überzeugung hervorgesungen.


Dann war es soweit. Der GröPaZ Tito kam und die noch immer abgemagerten, skelettierten Kinder standen gestriegelt und gebügelt mit Partisanenkappen auf dem Kopf da und sangen die Internationale und andere kommunistische Lieder. Dann sprach Tito zu den deutschen Kindern in der deutschen Sprache und malte die bevorstehende Zeit in Schule und Ausbildung in den buntest-rot-kommunistischen Farben aus und fragte dann die Gruppe um meine Tante, noch keine vierzehn Jahre alt, wo denn ihre Eltern abgeblieben seien. Da traute sich einzig die große Schwester meines Vaters, dem ehemaligen Testfahrer von Daimler Benz in Mannheim, mit fester Stimme entgegen zu schleudern: „Das wissen sie doch viel besser als wir!“


Das muss den Massenmörder gerührt haben, denn er legte meiner Tante die Hand auf die Schulter und sprach: „Ab jetzt kümmern wir uns um euch!“


Die Folge: Mein Vater und seine Geschwister wurden voneinander getrennt. Als erster musste mein Onkel, der ein halbes Jahr nach dem Tod meines Opas geboren wurde, nach Jabuka in ein Krankenhaus, wo er an den Augen operiert werden sollte, weil er an Trachomen, einer parasitären Augenerkrankung litt. Meine Tante wurde ebenfalls aus diesem Grund behandelt und mein Vater wurde im Stile einer Kinder-Land-Verschickung nach Schabatz / Šabac in Syrmien zu einer Familie geschickt, bei der er sich den Sommer über sattessen sollte. In seinen Erzählungen war diese Zeit glücklich, er bekam die gute serbische Küche und die damit einhergehende Gastfreundschaft zu spüren. Mit Rade sollte er an einem Tag Schweine zum Viehmarkt bringen. Ein großes Abenteuer für den nun 12 Jahre alten Peter. Ein Abenteuer, das ihm nach den vielen Kämpfen im Vernichtungslager Rudolfsgnad um ein wenig Nahrung kein bisschen zu groß oder gar unlösbar erschien. Aber, die beiden Gleichaltrigen wandelten wohl auf dem schmalen Grat der Selbstüberschätzung und des jugendlichen Größenwahns und schafften es mit der größten Mühe zum Viehmarkt und bekamen die Schweine sogar verkauft.


Wie genau der 12-Jährige Peter am Ende der Ferien von Šabac nach Stari Lec kam, weiß ich nicht, vermute aber, dass er mit dem Zug zu diesem kleinen, ursprünglich rein deutschen Dorf, gefahren sein musste. Dort bezog er mit anderen Jungs im Schlafsaal Quartier und suchte sofort nach Verbündeten und Freunden.


In den Erzählungen meines Vaters war immer wieder von seinem Heimleiter die Rede. Der Mann, der die Waisenkinder als „seine Jungs“ ansah und ihnen ein schönes Leben in Stari Lec ermöglichte, wurde nie bei seinem Namen genannt. Soweit mein Kenntnisstand bei der Begegnung auf der Treppe vor dem grünen Haus in Plandište, als ich bei Blagoje Blaži geklingelt hatte.


Meine Tante hatte mir auf der Rückfahrt von Stari Lec nach Mramorak einige Geschichten meiner Familie neu erzählt. So von der Abreise nach Deutschland, dem Aufeinandertreffen der drei Geschwister am Tage davor. ‚Meine Mutter hatte mir ja aufgetragen‘ als sie vor Hungerödemen und Wassereinlagerungen blau angelaufen auf dem Sterbebett lag: ‚Kümmer‘ dich um die Buben!‘ Deshalb hatte meine Tante ihre Brüder mit einigem Aufwand ausfindig gemacht und die Einladung einer Schwester meines Opas nach Deutschland erbeten, so dass die drei Geschwister aus dem Staat, der ihnen die Mutter, die Großeltern und den Bruder genommen hatte, endlich ausreisen konnten.

Davon erzählte ich Mikan in dessen Haus. Er musste mich oft unterbrechen, weil seine Freundin Milica unbedingt hören wollte, was ich zu erzählen hatte. Schnell war klar, wir drei, Mikan, Milica und ich würden in ein paar Tagen nach Stari Lec aufbrechen und dort versuchen, etwas mehr über meinen Vater herauszufinden. Das taten wir dann einen Tag nach der Abreise meiner Patentante, als sie mit dem Flugzeug von Belgrad über München nach Stuttgart zurückgeflogen war.


Etwa zwei Stunden vor der unerwartbaren Frage „warum kommst du jetzt erst?“ stand ich zum zweiten Mal in einer Woche an der Pforte zum ‚Dom 1. Oktobar‘ in Stari Lec. Ich stellte mir die Frage, was ich eigentlich hier zu tun gedenke. Diesmal war ich nicht mit meiner Tante hier, sondern mit Mikan und Milica, meinen Freunden, die mir jede noch so verschlossene Tür in Serbien bei meinen Filmrecherchen zur Vertreibung der Donauschwaben in atemberaubendem Tempo geöffnet hatten und es auch in den folgenden Jahren weiter taten. Aber hier wollte ich nicht für meinen Film drehen oder recherchieren. Der Pförtner erkannte mich umgehend wieder und bat uns nur um einen Moment, der „Direktor freut sich auf sie und nimmt sie gleich in Empfang“.

Stari Lec Heim
Stari Lec Heim

Ein paar Minuten mussten wir noch warten. Da stand dann der Direktor des Heims für geistig behinderte Menschen vor uns, sprach Englisch mit mir und führte durch den Park bis zur geschwungenen Auffahrt des Schlosses. Im Garten bewegten sich die Bewohner in teils zerschlissener Kleidung. Wer immer den Direktor sah, grüßte ihn freundlich und glücklich winkend oder mit Verbeugungen und alle, ausnahmslos alle lächelten ihn selig an. Es war fast etwas Heiliges an diesem Mann, der warmherzig auch den Kranken noch in den Arm nahm und ihm gut zuredete. Wir gingen ins Büro durch eine Ausstellung von Gemälden und Zeichnungen, die von Bewohnern aus diesem Heim gemalt worden waren. Für 300 Dinar erwarb ich die gerahmte Zeichnung einer älteren Frau. Der Künstler lebe noch immer hier und das Malen helfe ihm vielleicht sogar, eines Tages geheilt zu werden.


Unvermittelt wandte sich der Direktor an mich: „Aber wenn sie auf den Spuren ihres Vaters wandeln, der hier im Waisenhaus war, dann empfehle ich ihnen einen Besuch bei seinem Heimleiter in Plandište.“ Ich war fassungslos: „Das kann doch unmöglich der Heimleiter meines Vaters sein!“ „Doch, der Heimleiter ihres Vaters lebt noch. Hier gab es nur ein Waisenhaus für Kriegswaisen und da gab es nur einen Heimleiter, Blagoje Blažic. Der lebt in Plandište, ist Anfang 80 und vollkommen fit.“


Mikan sprach aus, was ich dachte: „Du willst da hin und mit dem Mann sprechen!“ Er tat es im Imperativ, weil auch er nicht erwartet hatte, dass wir dem Heimleiter meines Vaters überhaupt begegnen könnten. Milica strahlte und wir fuhren nach Abgabe meines Versprechens, einige Kisten mit guter Kleidung bei meiner nächsten Reise nach Serbien ins Banat hier abzugeben. Der Direktor druckte mir eine Bestätigung meiner Hilfslieferung an das Heim für geistig Behinderte in Stari Lec vorsorglich aus, die ich beim Grenzübertritt vorzuzeigen hätte, um den Zoll zu umgehen. Bei meiner privaten Hilfslieferung zwei Jahre später, musste ich die Information verkraften, dass dieser unfassbare und überaus hilfsbereite, liebenswürdige Direktor schon im Jahr darauf nach kurzer Krankheit im Alter von 59 Jahren verstorben war.


Seine Wegbeschreibung war denkbar einfach: Nach Plandište, dort in der Ortsmitte befände sich die Einkaufsmeile der Stadt, rechts abbiegen und am Ende der Straße auf der rechten Seite stünde ein grünes Haus. Dort wohnte Blagoje Blaži, der ehemalige Heimleiter meines Vaters mit seiner Frau.


Nun stand ich im Banat mit einem alten Mann vor dessen Haus, dem die Tränen aus den Augen schossen als er mir die Frage stellte „warum kommst du jetzt erst?“ Ich drehte mich übersetzungssuchend zu Mikan um: „Woher sollte ich denn wissen, dass er noch lebt? Und wie konnte er – nur zehn Jahre älter als mein Vater – damals der Heimleiter im Waisenhaus in Stari Lec sein?“ Mikan übersetzte lachend, meine Verwunderung. Herr Blaži bat uns drei in sein Haus. „Zora, dodji. Imamo gosti!“ Das verstand ich, er rief seine Frau, weil nun Gäste im Haus waren.


Das Ehepaar Blažić
Das Ehepaar Blažić

Wir setzten uns auf die vor Mücken mit einem großen Moskitonetz geschützte Terrasse an einen kleinen, runden Holztisch und bekamen zur Begrüßung einen amtlichen Schnaps. Zora Blaži brachte danach Kaffee und Gebäck. Die Hausherrin setzte sich zu uns. Ich wollte Fragen stellen, diese unerwartete Gelegenheit nutzen, mich meinem aufgrund einiger Fehlbehandlungen nun pflegebedürftigen und dementen Vater auf diese Weise zu nähern. Meine erste Frage war: „Stimmt es, dass mein Vater sehr schnell serbisch konnte?“ Blagoje Blažić antwortete: „Frag doch meine Frau, sie war die Klassenlehrerin deines Vaters.“ Mikan übersetzte die ganze Zeit über und Milica stellte Verständnisfragen, die Mikan ebenfalls zu übersetzen hatte. Mir taten die beiden leid für alles, was sie mir zuliebe auf sich genommen hatten und bin ihnen dankbar, mir diese und viele andere Möglichkeiten verschafft zu haben. Aber hier konnte ich mir keine Empathie erlauben und sie dürfte unnötig gewesen sein. Zora Blažić bestätigte: Mein Vater hatte wirklich sehr schnell und sehr gut serbisch gelernt. „War mein Vater wirklich der Schnellste unter den 130 Jungs?“ „Ja, dein Vater war der Schnellste. Und wenn ich mir dich anschaue, sehe ich deinen Vater zwischen den Bäumen im Park von Stari Lec herumrennen.“ War mein Vater auch wirklich der Beste im Fußball?“ „Ja, war er, wobei: Milan Galic war noch ein bisschen besser. Aber dein Vater konnte schneller rennen.“ Milica riss die Augen weit auf und ließ ihre Kinnlade auf den Betonboden aufschlagen. Mikan spontan: „Hast du den Namen schon mal gehört?“ Welchen Namen?“ „Na, Milan Galic! Weißt du nicht, wer der ist?“ „Nein, wieso?“ „Milan Galic ist in Jugoslawien ungefähr genauso bedeutend wie bei euch in Deutschland Franz Beckenbauer. Und dein Vater hat mit dem in Stari Lec Fußball gespielt. Kapierst du das? Was das bedeutet?“


Blagoje Blažić erzählte von einer Einladung ins zuständige Ministerium für die Fußballtalente im Waisenhaus Stari Lec. Dort mussten fünf Auserwählte, darunter mein Vater und Milan Galic vorspielen. Die fünf Waisen wurden mit Trikots ausgestattet, erbaten aber für ihre Kameraden, die sie in Stari Lec zurücklassen mussten, ebenfalls Trikots und bekamen diese nach reichlich Diskussion doch noch ausgehändigt. Ich dachte bei dieser Geschichte, mein Vater hatte mir von einem Gale erzählt, mit dem er sich immer gemessen habe. Dabei sei der große Vorteil meines Vaters gewesen, dass er als Linksfüßer alle anderen, die normalerweise Rechtsfüßer seien, übertölpelt habe. Mein Vater konnte mir, selbst ein durchaus flinker Sprinter, noch im Alter von 60 Jahren locker davonrennen. Zudem erinnere ich mich, wie mein Vater mit dem Fuß einen Ball jonglieren und sich selbst in den Nacken kicken konnte. Nun, sein Konkurrent Milan Galic wurde zum Star und spielte einst in der jugoslawischen Nationalmannschaft.


Blagoje Blažić hatte nach Kriegsende Pädagogik studiert und wurde im Sommer 1948 zum Zentralkomitee der Kommunistischen Partei in Zrenjanin, der serbisch-banater Hauptstadt, dem einstigen Neo Barcelona, Nagybecskerek, deutsch Großbetschkerek oder Petrovgrad, gebeten. Dort habe man ihm gesagt, da gäbe es ein Heim für Kriegswaisen in Stari Lec. Die zunächst 90 Jungs bräuchten einen Heimleiter. Ob Blagoje Blažić sich das vielleicht vorstellen könnte. Derlei Fragen sind Chancen, die ein damals 22 Jahre alter Mann zu ergreifen hatte. „Hier, den Koffer nimmst du mit, Genosse! Darin sind 20 Millionen Dinar für ein Jahr! Mach das Beste draus! Viel Glück!“ Der Pädagogikabsolvent hatte mit dieser Aufgabe nicht gerechnet, dachte eigentlich daran, vielleicht irgendwo als Lehrer anheuern zu können und trat nun aber den Dienst in Stari Lec am Folgetag an. Er reiste mit der Bahn von Zrenjanin nach Stari Lec und hatte seine Habseligkeiten, sowie den Koffer mit den 20 Millionen Dinar bei sich.


In Stari Lec sollten sich die Heimzöglinge vor ihm aufstellen. Links standen die Serben und Bosnier, rechts die Deutschen. 45 auf jeder Seite. „Mir ging schlagartig durch den Kopf: Kriegswaisen! Die sind nur deshalb hier, weil sich deren Väter gegenseitig erschossen haben! Das muss aufhören, ich muss es schaffen, dass die sich hier miteinander verstehen und versöhnen. Die können nichts dafür, dass ihre Väter Krieg gegeneinander führten.“ Mit dieser Schilderung hatte ich buchstäblich mein Herz an diesen mir beim Frühstück am Morgen desselben Tages noch völlig unbekannten Mann verloren.


„Eines Tages schickte ich die Jungs nach Plandište auf den Markt, sie sollten Schafsfleisch kaufen. Ich hatte ihnen Geld mitgegeben. Aber die Jungs dachten, lebendige Schafe sind günstiger als einige Kilo Fleisch für die über 100 Jungs, die von der Küche – übrigens: eine Donauschwäbin war dort tätig – tagtäglich versorgt werden mussten. Nun, was war passiert? Die Jungs hatten sich auf dem Rückweg von Plandište nach Stari Lec mit den Tieren angefreundet und waren dagegen, sie zu schlachten.“ Gelächter am Tisch, dann Mikans Übersetzung und schließlich musste auch ich lachen. Halb aus Empathie, halb wegen der bildhaften Erzählung des ehemaligen Heimleiters meines Vaters.


1990, als ich den Sommer in Berlin-Friedrichshain verbrachte, hatte Blagoje Blažić „seine Jungs“ zu einer Wiedersehensfeier ins Banat eingeladen. Ich wusste davon fast nichts. Aber Herr Blažić erzählte mir, wie mein Vater angereist sei. An der jugoslawischen Grenze wollte man ihn nicht einreisen lassen, wegen der gegenwärtigen Kriegsgefahr. Unmittelbar vor der Einreise meines Vaters war der Konflikt der Zentralregierung in Belgrad mit Slowenien, aber auch Kroatien soweit hochgekocht, dass nun ganz real mit einem Krieg zu rechnen war. Mein Vater wollte davon allerdings nichts wissen und war entsprechend verärgert: „Meine Jungs und mein Heimleiter feiern Wiedersehen und da ist mir euer Krieg scheißegal! Ich will da hin!“ Also durfte mein Vater doch einreisen und ich stellte mir seine einsame Fahrt über die „Bratstvo jedinstvo“ genannte Autobahn durch Slowenien, Kroatien bis Belgrad ziemlich apokalyptisch vor. Mein Vater über hunderte von Kilometern alleine und hier und da ein Militärkonvoi auf der Gegenfahrbahn. Vielleicht auch Schüsse in der Nähe.


Klassenfoto, zweiter von rechts, vorletzte Reihe, steht mein Vater
Klassenfoto, zweiter von rechts, vorletzte Reihe, steht mein Vater

Beim Wiedersehen soll mein Vater seinem Heimleiter gesagt haben, er wolle wieder zurückkehren nach Jugoslawien, in Deutschland habe er sein Glück nicht gefunden.


Blagoje Blažić und mir standen immer wieder Tränen in den Augen. Zora Blažić schenkte mir ihren Gedichtband, den sie vor wenigen Jahren veröffentlicht hatte. Beim Abschied hatte ich das tiefe Gefühl von Nähe zu diesem Mann, der mir einen Einblick in die Jugend meines Vaters gewährte und ganz nebenbei in mir für die Erkenntnis sorgte, mein Vater hatte nicht ein einziges mal geflunkert, wenn er mir von seiner Kindheit und Jugend erzählt hatte. Nein, mein Vater hatte mir tatsächlich immer die Wahrheit gesagt. Damit hatte ich nicht gerechnet und deshalb ein schlechtes Gewissen, denn seine Erlebnisse, die in tolle Geschichten mündeten, erschienen mir zu phantastisch und so hatte ich ihm in meinen Gedanken zu Unrecht viel Flunkerei unterstellt.


„Der ist aber ganz schön alt geworden!“ Das waren die Worte meines Vaters im Pflegeheim in Stuttgart-Bad Cannstatt. Damit kommentierte mein Vater das Handyfoto seines nun wirklich schon alt gewordenen Heimleiters. „Na, schau dich doch mal an! Du bist ja auch nicht mehr der Jüngste!“ So sprachen mein Vater und ich nach meiner Rückkehr aus seiner alten Heimat miteinander über meine unerwartete Begegnung mit seinem alten Heimleiter, dessen Name ich nicht von meinem Vater erfahren hatte.


Nachtrag: Der freundliche Direktor des „Dom 1. Oktobar“ – dem Heim für geistig behinderte Menschen, der mir den Hinweis auf den noch lebenden Heimleiter meines Vaters gegeben hatte, starb ein Jahr nach unserer Begegnung. Als ich die von ihm unterzeichnete Bestätigung 2009 an der serbischen Grenze vorlegte, um Kleidung bei dem Direktor in Stari Lec / Alt Letz abzugeben, wusste ich noch nicht, was ich wenige Stunden später erfahren würde: Der Direktor war wenige Wochen zuvor im Alter von 59 Jahren kurz nach Diagnosestellung einem Krebsleiden erlegen. Ich bin ihm sehr dankbar für die in diesem Text beschriebene Begegnung mit seinem Vorvorgänger Blagoje Blazic, der mich mit seiner Frage „Warum kommst du jetzt erst“ unerwartbar überrascht hatte. Ohne diesen „Engel“ wäre ich 2008 unwissend aus dem Banat abgereist.


2 Comments


Matthias
Mar 06

Ich war mit meinem Vater 1984 im Banat, in seinem Heimatdorf. Wir besuchten den Ort und waren bei Rumänen, die noch mit meiner Tante in die deutsche Schule gegangen sind. Meine Urgroßmutter und drei Urgosstanten wurden im Lager Rudolfsgnad umgebracht.

Es ist schön zu sehen, dass es auch noch andere Menschen gibt, die nach ihren Wurzeln suchen.

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Guest
Feb 28

Das Leben ist ein Puzzle von unzähligen Geschichten. Die von Thomas Dapper ist eine sehr berührende.

Edith

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