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Die blauen Trauben meines Großvaters


Foto: banat-tour.de

Wenn heute in rumäniendeutschen Kreisen vom Banat die Rede ist, meint man häufig das rumänische Banat. Ein Drittel des historischen Banats gehörte jedoch seit 1919 zu Jugoslawien. Dort lebten auch deutsche Minderheiten, auch Donauschwaben genannt, deren Schicksal nach dem Ende des 2. Weltkrieges schrecklich endete.

Einer, der sich zur Zeit noch mit dem Exodus dieser Banater Schwaben beschäftigt, ist Thomas Dapper, Jahrgang 1969. 1994 schloss er die Kaskeline-Filmakademie in Berlin ab und leitete den Aufbau einer Casting-Redaktion und im Anschluss die Drehbuchabteilung einer wöchentlichen Serie des WDR. 2012 nahm er mit seinem Film "Wege nach Mramorak", in dem er das Trauma seiner Familie mit historischen Begebenheiten in den Jahren 1941 bis 1948 verbinden konnte, an der historischen Tagung "Vom Verschwinden der deutschsprachigen Minderheit aus Jugoslawien" im österreichischen Bad Radkersburg teil.

Als Referent für Öffentlichkeitsarbeit bei der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen trägt Dapper aktiv dazu bei, das Bewusstsein für die Geschichte und Kultur der deutschen Minderheiten zu schärfen. Er griff eine Idee auf, die im Vertriebenenbereich naheliegend ist: Die gegenseitige Vernetzung, Kommunikation und Nutzung von Synergieeffekten der unterschiedlichen Vertriebenengruppen und -organisationen, die bei allen Unterschieden auch viel Gemeinsames haben. Seine Arbeit ist geprägt von einer tiefen Verbundenheit mit seiner Herkunft und einem starken Engagement für Aufklärung und Versöhnung.

Seit neuestem ist er Mitglied im Bundesvorstand der Donauschwaben.


Thomas Dapper schreibt auch Kurzgeschichten über seine Kindheit in Schwieberdingen und über die Annäherung an seine Familie im serbischen Teil des Banats. Eine davon hat er uns dankenswerterweise zur Verfügung gestellt.

Text: Hans Rothgerber


Die Kurzgeschichte von Thomas Dapper über den Besuchs auf dem ehemaligen Hof seiner Familie, an deren tragisches Schicksal anlässlich eines Besuchs im sonnigen warmen serbischen Teil des Banats erinnert wird, ist meisterhaft erzählt und geht zu Herzen. Es geht um Traumata, die auch in den nächsten Generationen noch nachwirken, die auf versöhnliche Art aber auch verarbeitet werden können.

Auf den Spuren der Großeltern fährt der Enkel nach Serbien zum ehemaligen Hof aus dem seine Familie nach dem Krieg vertrieben wurde. Die Großeltern haben die schreckliche Zeit nicht überlebt, der Vater entging als Kind nur knapp dem Tod. Der Enkel erinnert sich an die Familiengeschichte, sucht das Gespräch mit den Menschen, die heute dort wohnen. Wunderbar das Bild der Weintrauben als Bindeglieder zwischen den Generationen.

Dank an Thomas für das Teilen der mit viel Talent und Einfühlungsvermögen erzählten Geschichte

Im Bild die blauen Trauben meines Urgroßvaters in Paulisch, Foto Hans Rothgerber

Text: Astrid Ziegler



Die blauen Trauben meines Großvaters


Dunkelblaue Trauben von meinem Großvater, süß, klein und mit einer feinen Note Säure komponiert, beweisen mir noch heute, er war ein Weinkenner und wusste, wie er als guter Winzer Wein und Rebe behandeln muss.


Das Bild, einer Erinnerung gleich, zeigt mir mich selbst auf seinem Schoß sitzen. So füttert er seinen Enkelsohn. So hatte er einst voller Stolz hier seine ersten drei Kinder gefüttert. Süße blaue Trauben. Gut, sie haben viele Kerne und im Verhältnis recht wenig Fruchtfleisch. Dies aber ist umso leckerer.

Zwischen meiner Geburt und der meines Opas liegen 63 Jahre minus knapp vier Monate. Die Normalität des liebevollen und fürsorglichen Vaters meines Vaters haben wir beide nicht erlebt. Als ich geboren wurde, war er bereits siebenundzwanzigeinhalb Jahre tot.


Die Erinnerung an ihn blieb eine Leerstelle in meinem Leben. Sicher ein Teil meines Gefühls von Wurzellosigkeit. Mit Trauben wurde ich von meinem Vater gefüttert, wie er selbst einst von seinem Vater gefüttert wurde. Mit den gleichen Trauben wie ich sie nun genießen konnte, als ich im September auf dem Hof meiner Familie stehen durfte.


Die Serbin, als Kolonistin 1946 mit ihren Eltern in das Geburtshaus meines Vaters kommunistisch-planwirtschaftlich einquartiert, zeigte mir jeden Winkel, den Keller, den Garten, die Sommerküche und den Dachboden und auch das Zimmer, in dem meine Großeltern mit ihren Kindern gewohnt hatten. Hier also war mein Vater geboren worden. Am dreißigsten Geburtstag meines Großvaters. Das Zimmer meiner Großeltern ist groß und bietet Platz für einige Betten, hat aber ein kleines Fenster gegenüber der Tür. Es ist breit, aber nicht hoch. Durch dieses Fenster fällt Dunkelheit.

Aus diesem Zimmer wurde meine Oma Ende April 1945 mit ihren vier Kindern mitten in der Nacht herausgescheucht wie lästiges Ungeziefer. Die stolze Ehefrau war seit drei Jahren verwitwet und voller Trauer. Nun wurde ihr die letzte Geborgenheit, die des sicheren Heims für sich und ihre Kinder, geraubt.


Der Hund musste sterben. In der Erinnerung meines Vaters wurde er von den Partisanen vor dem Haus erschlagen. Meine Tante ist sich sicher, Lumpi habe seine Familie gesucht und sei bis ins Lager gefolgt und wäre dort von den Partisanen erschossen worden. Beide Versionen kenne ich auch mit vertauschter Todesart und wechselndem Ort. Fest steht, dass Lumpi sterben musste. Der Hund meines Vaters, den er als Freund betrachtet hatte.

Nach Lumpi starben im Lager Mramorak mein Urgroßvater Franz, seine Frau Elisabeth und eine Reihe weiterer Tanten, Großonkels und Großcousinen an Vernichtung durch Nahrungsentzug. Von wegen, „die Internationale erkämpft das Menschenrecht“.


Die Trauben sind blau und unglaublich lecker. Mein Opa hätte mich auf seinem Schoß sitzend mit seinen Trauben stolz und fürsorglich gefüttert. Ihm und mir blieb dieses Erlebnis verwehrt. Die Reben waren 2003 dicker als alle Reben, die ich aus Württemberg kenne. Mir fiel zunächst nicht auf, wie dick die Weinstöcke waren. Erst allmählich wurde mir klar, dass sie sehr alt sein mussten. Also fragte ich nach, und Frau Jovanovic bestätigte mir, die Handvoll Reben waren nicht von ihrer Familie eingesetzt worden.


Mein Vater hatte mir oft von seinem Vater erzählt, der an der Hauswand zu den Nachbarn Spalierobst angelegt hatte. Vor den Obstbäumen eine Reihe Weinreben. Vom Spalierobst meines Großvaters war keine Spur mehr zu finden. Aber die Weinreben trugen volle, reife, blaue Trauben. Üppig. Niemand interessierte sich für diese Trauben außer mir. Diese Trauben sind die, die mein Opa dort als junger Vater gepflanzt und gepflegt hatte.


Im Sand. Der Mramoraker Sand ist etwa 4 Kilometer vom Dorf entfernt. Es erhebt sich die ehemalige Banater Sandwüste mit den Weingärten. Bei meinem Besuch dort ein faszinierendes Bild. Kirschbäume, Robinien und sonstiges Gesträuch mit blauen Trauben in ihren Ästen und Kronen. Die selbe Sorte wie die Trauben meines Opas. Othello oder süddeutsch Hoteller. Diese Sorte hat als einzige die Verwilderung nach der Vertreibung und Vernichtung der Donauschwaben überstanden und wächst noch heute wild auf den ebenfalls erhalten gebliebenen Obstbäumen, die die Banater Weinbauern auf dem ertragreichen Sandboden kultiviert hatten. Auch hier waren die blauen Trauben reif und auf merkwürdige Art noch leckerer als die auf dem Hof meiner Familie.


Alles, was auf diesem Sandboden wächst, ist süßer und aromatischer als das, was auf der dicken, schwarzen, schweren und fruchtbaren Erde des Banats wächst. Zwiebeln, Walnüsse, Maulbeeren und so auch der Wein mit dem Namen eines Shakespearschen Helden.


Die Mramoraker Weingärten wurden 1906 als Wahlgeschenk des ungarischen Abgeordneten Szivag eingerichtet. Meine Familie bewirtschaftete ihren Weingarten bis in den Herbst des Jahres 1944. Meine Großeltern fuhren im Frühjahr, Sommer und im Herbst oft hinaus, manchmal mit den kleinen Kindern, und pflegten Obst, Wein und Gemüse. Ein bisschen Luxus durch die Gaben der Natur, die unsere Ahnen buchstäblich zu bändigen hatten.


1820 war Franz Bachofen Edler von Echt schon zwei Jahre dabei, die Flugsand“wüste“ zu beruhigen. Das war das Jahr, in dem meine Ahnen im Banat eintrafen und dort die Sicherung der Militärgrenze und die Bewaldung der Banater Sandwüste betreiben sollten. Sie hätten sich bestimmt über das Bild ihrer Urenkel auf dem Pferdewagen gefreut.


Die Gebeine meiner Ahnen befanden sich auf dem alten Friedhof in Mramorak. Ein serbischer Freund erzählte mir, man habe in den 1950er Jahren mit einem Bagger alle Knochen, Sargreste und sonstigen Überbleibsel menschlichen Lebens zusammengeschoben. Die Erinnerung an die deutschen Nachbarn sollte auch unter der Erde verschwinden.


Als ich die Trauben meines Opas aß, biss ich sie zuerst vorsichtig auf. Jede Nuance ihres Geschmacks sollte meine Zunge wahrnehmen. Die Traube blieb intakt unter der Haut, die ich ihr abgezogen hatte. Die Kerne wurden im Fruchtfleisch sichtbar und die Sonne erleuchtete diese wundervolle, dunkelblaue Traube. Eine leuchtende Kugel von der Sonne erwärmt bedeutet - im Moment ihrer Aufnahme - mir die Verbindung mit dem Vater meines Vaters, der diese Trauben angepflanzt hatte. Für seine Kinder und die Kinder seiner Kinder.


Später erzählte man mir, mein Opa sei ein schwerer Kriegsverbrecher gewesen. Schon mein Vater habe das nicht glauben wollen, so erzählte diese Unwahrheit der ansonsten äußerst liebenswürdige Blagoje Blazic einer Belgrader Historikerin. Der ehemalige Heimleiter meines Vaters hatte höchstselbst recherchiert. Blazic reiste eigens nach Mramorak und fragte im Rathaus nach „Peter Dapper“ und bekam zur Antwort: „Schwerer Kriegsverbrecher!“

Das Problem mit dem Namen: Mein Opa und mein Vater waren nicht die einzigen in Mramorak geborenen Peter Dapper. Es gab derer sieben, die mit einer Katharina verheiratet waren. Danach hatte Anfang der 1950er Jahre keiner mehr gefragt. Da reichte die Namensnennung, denn sollte tatsächlich einer der Peter Dappers zum Kriegsverbrecher geworden sein, dann könnte dieser sich in der Menge gleichnamiger und völlig harmloser verbergen. Eines muss ein Kriegsverbrecher allerdings getan haben: Er muss am Krieg als Soldat teilgenommen haben.

Nun, mein Opa war seit 1939 schwer krank, hatte mehrere Krankenhausaufenthalte in Pancevo, Groß-Betschkerek, Belgrad und schließlich in Wien hinter sich gebracht. Selbst wenn er gewollt hätte, wäre er zu schwach gewesen, ein Gewehr zu schultern und damit zu marschieren. Auf dem Passfoto ist sein Gesicht zur Hälfte vom innerlich austretenden Blut erkennbar geschwollen. Für Kriegsverbrechen hatte mein Opa keine Zeit gehabt, keine Kraft und auch keinen Willen. Noch auf seinem Sterbebett hatte er meiner Oma das Versprechen abgenommen, die Kinder niemals in die nationalsozialistische Jugendorganisation eintreten zu lassen.


1941 verbrachte mein Opa ein halbes Jahr im Allgemeinen Krankenhaus in Wien, genauer im dortigen Militärhospital. Er musste sein Bett räumen für die Verwundeten des Russlandfeldzuges. Mein Opa war politisch interessiert und lehnte diesen Krieg, Hitler, den Nationalsozialismus und den Mord an den Juden ab. Laut sagen durfte er es nicht. Seiner Frau vertraute er seine Meinung an. Sie erzählte ihrer ältesten Tochter davon. Jedes Jahr früherer Geburt sorgt für mehr und frühere Erinnerungen an die eigenen, viel zu früh verstorbenen Eltern in späteren Jahren.


Mein Cousin fragt Frau Jovanovic um Erlaubnis, sich Ableger der Weinreben unseres Opas abschneiden zu dürfen. In seinem Garten in Hessen, unweit der Kleinstadt, aus der unsere Urahnen 1820 ins Banat aufgebrochen waren, wächst nun der Othello als ideelles und doch sichtbares Erbe unserer Ahnen weiter. Die Söhne meines Cousins wissen von der Herkunft der noch lebenden Weinrebe im Garten, die gewissermaßen die Rückreise in die ursprünglich alte Heimat unserer Familie dokumentiert.


In vielen Erzählungen meiner Tante werden aus Schwarzweißfotoerinnerungen lebendige Menschen, ein strenger und doch liebevoller Vater und eine vielleicht etwas konservativere Mutter meines Vaters und seiner Geschwister. Mein Opa erlebte selbst nur drei seiner vier Kinder. Das Vernichtungslager Rudolfsgnad hatten dann wieder nur drei seiner vier Kinder überlebt. Die Schauergeschichten von Folter, erzwungenem Hunger, Krankheiten, Seuchen, Kälte und wild wütenden Partisanen passen nicht zu meinen Eindrücken vom friedlichen, sommerlichsatten Banat. Alle Felder tragen üppige Nahrung. Auf dem Hof und im Garten meiner Familie laden die blauen Trauben meines Opas zu Genuss und Gedanken.

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