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Ein Mädchen nimmt Abschied

Gedanken zu zwei Fotos, einem Buch und den letzten Tagen vor der Aussiedlung


Es gibt Momente, die, mit der Kamera festgehalten unabsichtlich Portrais von starker Aussagekraft schaffen. Das ist oft dann der Fall, wenn der oder die Fotografierte sich in einer Ausnahmesituation befindet oder an einer Schwelle in einen neuen Lebensabschnitt.  

So gibt es zwei Fotos in meinem alten Album, auf denen mich beim Durchblättern ein Mädchen anschaut und innehalten lässt. Dieser Blick hält mich fest, er gilt mir und meinem heutigen Ich, das das Wesen des damaligen Kindes mit seinen Freuden und Nöten miteinschließt. Der eindringliche Blick ist leichter auszuhalten, wenn ich einen Wechsel der Perspektive vollziehe und mir vorstelle, von oben auf das Geschehen von damals zu blicken.  


Ein Mädchen liegt lesend in der guten Stube des Hauses, in der sich mangels eigenem Zimmer auch ein “Rekamee” als Rückzugsraum des Kindes befindet. Ein Freund der Familie und Vater einer ihrer Temeswarer Schulfreundinnen, der Harti-Onkel ist gerade zu Besuch. Das Mädchen kennt ihn von gemeinsamen Unternehmungen mit dem Freundeskreis der Eltern. Die Erwachsenen sitzen am Tisch und sprechen über Dinge, die mit der bevorstehenden Auswanderung der Familie zu tun haben. Die Mutter würde nämlich mit dem Mädchen bald nach Deutschland zum Vater fahren, für immer, die Großeltern sollten nachkommen. Schließlich richtet der Bekannte die Kamera, die er zufällig dabei hat, auf das am Rande anwesende Kind. 


Das Mädchen spürt, dass es an der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt steht. Sie kann sich unter dem neuen Leben in Deutschland zwar nichts vorstellen, weiß aber, dass sie “den Pass bekommen” haben, wie man sich damals ausdrückte. Dennoch findet es die Tatsache, bald Auszuwandern, sehr irreal. 

Was gerade zählt, ist das Buch, in das sie vertieft ist. Es könnte “Nik und Onkel Jonathan” von Erika Hübner-Barth* sein, ihr Lieblingsbuch von einer siebenbürgisch-sächsischen Schriftstellerin, in das sie in der letzten Zeit vor der Ausreise immer wieder hinein las. Das fantasievolle Werk brachte sie zum Träumen. Der jugendliche Held Nik war ein Junge in ihrem Alter und Onkel Jonathan eigentlich ein geflügeltes Fahrrad, das sich mit seinen Schwingen in die Lüfte erheben konnte. Mit diesem Zauberfahrrad gelangte der Junge in ein Opa-Oma-Land und konnte von dort in der Geschichte vor - und zurückreisen. So flog Nik in eine Zukunft, die große Überraschungen und unvorstellbare Erfindungen parat hatte. In diesem “Übermorgen” genannten Zeitalter gab es künstliche Bäume, von denen man mit Getränken und Limonade bedient wurde. Es gab sogar Sträucher, von denen man sich Spielkameraden pflücken konnte, die lebendig und groß wurden und mit einem Fußball spielten. War man des Spielens müde, konnte man sie wieder zurück an den Strauch stecken. An den dunklen Winterabenden in dem Haus, von dem das Mädchen Abschied nehmen musste, las sie immer wieder in dem Buch und tauchte in die surreale Märchenwelt darin ein. 

“Astrid schau mal her”, fordert sie Harti-Onkel auf und holt sie aus der Welt des Buches in die Wirklichkeit. Sie dreht den Kopf, als wollte sie sagen: “Wer stört und muss das jetzt sein?” 


Das erste Bild, das die Kamera einfängt zeigt den Moment der Störung. Müsste es einen Titel für das Foto geben, wäre es der rumänische Ausdruck “deranj” (das Stören), der es perfekt beschreiben würde. Das helle Gesicht leuchtet aus etwas zerzaustem dunklem Haar, ein missbilligender Blick aus den verträumten Augen, ein Schmollmund, wie der einer kindlichen Bardot. Nichts davon ist eigentlich vorzeigbar, auch der Pullover nicht, der aus einheimischer Produktion stammt und nichts Schickes oder Elegantes an sich hat. 

“Komm, setz dich auf, damit der Harti-Onkel dich schön fotografieren kann”, wird die Mutter gesagt haben. Vielleicht auch: “Streich dir die Haare aus dem Gesicht, du bist ja ganz verstrubbelt!” Denn auf dem zweiten Bild sieht die Frisur besser aus. Voller Blick, volle Lippen, pures Schauen fängt der Fotograf jetzt ein, wenngleich ohne Lächeln, wie es fotografierten Kindern heute so oft abverlangt wird. Man kann förmlich in die Seele dieses Kindes schauen, das drauf und dran ist, sein noch warmes aber schon erkaltendes Nest zu verlassen. 

Das Haus in der Strada Costineşti würde bald leer sein, die Zimmer mit den altmodischen Möbeln, die kleine Küche, in der die Großmutter immer am Aragas stand und die Familie sich täglich um den Esstisch versammelte, die vertrauten Räume in denen sich das Leben abgespielt hatte. Immerhin musste sie das Zuhause nicht entkleidet sehen, die Dielen und Wände nackt, denn sie und die Mutter sollten voraus fahren an einem Tag im Februar, kurz nachdem diese Bilder aufgenommen wurden. 


Das Mädchen wusste, dass es weg musste, denn es wollte zum Vater nach München. Doch es wollte gleichzeitig auch bleiben. Es liebte sein Temeswar, das sich im Vorfrühling anschickte wieder bunt zu werden. Die ersten Schneeglöckchen gab es am Freiheitsplatz schon in Sträußchen zu kaufen. Astrid wollte wie jedes Jahr welche in die Schule mitnehmen, wo sie die Kameraden und Freundinnen traf. 

Doch die Trennung vom Vater wog schwerer als die kleinen Freuden, die die vertraute Welt in Temeswar bot. Die Betroffenheit der Mutter, wenn sie von den Audienzen beim Passamt zurückkam, bedrückte sie auch. Trotz ihres jugendlichen Alters hatte sie eine düstere Vorahnung, dass das “Morgen” in Rumänien nicht voller Limonadenbäume sein würde. Die Sphäre der Erwachsenen begann zunehmend in die der Kinder hineinzudrängen. Es gab Schlangen vor den Lebensmittelläden, in der Schule mussten sie im Rumänischunterricht lange “Ceauşescu şi partidul” (Ceaușescu und die Partei) vorherrschende Gedichte mit “trăiască şi înflorească” (es lebe und gedeihe) auswendig lernen, als Pionier “cântece patriotice” (patriotische Lieder) mit eingängiger Melodie und schwülstigem Text singen:


Am cravata mea, sunt pionier

Şi mă mândresc cu ea, sunt pionier,

Flutură în vânt, zălog de legământ,

Întâiul meu cuvânt de pionier!


(Ich hab' meine Krawatte, ich bin ein Pionier

Und ich bin stolz darauf, ich bin ein Pionier,

Sie flattert im Wind, ein bindendes Gelübde

Mein erstes Pionierwort!)


Dieses Wort nicht geben zu müssen, sondern frei sprechen zu können, dafür war der Vater weg, das wusste die Tochter und dafür mussten auch die Mutter und sie bald Rumänien verlassen. 

Sie würden sich auf eine Reise begeben und Grenzen überschreiten. Wie Nik aus dem Kinderbuch, das ihr den Abschied versüßte, würde sie mit einer besonderen Bahn reisen, einem Zug namens Orient-Express. Aus dem Hof, aus der Stadt, übers Land bis zum Bahnhof Curtici, dann über die Grenze mit dem Zug in ein anderes Land und dann in noch eines, bis sie schließlich in München in der Freiheit ankommen würden. Im neuen Lebensumfeld sollte schließlich auch eine weitere wichtige Grenze überschritten werden, die vom Kind zur Erwachsenen.


Ich reiße mich von dem Bild los. Weit weg bin ich bei dem Anblick dieser letzten beiden Portraits aus Temeswar gewesen. 45 Jahre nach dem Aufnehmen dieser besonderen Bilder können sie und die Gedanken dazu in ein virtuelles Netz gestellt werden. Wie die Autorin Erika Hübner-Barth in ihrem fantasievollen Kinderbuch “Nik und Onkel Jonathan für die Zukunft im “Übermorgen” schon im Jahr 1974 voraussah, kann man hier Gefährten finden und sich Rat oder Wissen holen. Bilder und Texte hängen darin wie Riesenblüten, die man pflücken kann, wie im “Übermorgen” im Buch vorausgesehen. Nur dass es keine Zeitungsfresserkrebse gibt, wie dort beschrieben. Sondern Mäuse, die Fotos und Geschichten, wenn man sie betrachtet und gelesen hat, mit einem Klick wieder verschwinden lassen können. 


* Nik und Onkel Jonathan von Erika Hübner-Barth ist inzwischen eine wertvolle Buchrarität, die man neben zahlreichen anderen deutschen Kinderbüchern aus der Zeit in Rumänien nur in der Bibliothek des IKGS in München finden kann.

4 Comments


Guest
Feb 04

Die Fotos und das Erwachen der Erinnerung dessen, was Du damals gefühlt hast.

Du hast geahnt, dass dir eine große Veränderung bevorsteht und doch nicht wissend, was genau dich da erwartet in dieser anderen Welt. Eine Zäsur nicht nur für die Erwachsenen, sondern umso mehr für Kinder.

Eine Zeit des Abschieds und der Erwartungen, eine Zeit, die Du noch immer in dir trägst..

Berührend...

Herzlichst

Edith

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Guest
vor 6 Tagen
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Vielen Dank für deine Einschätzung, liebe Edith! Es ist meine Geschichte des Abschieds, die wir aber alle in bestimmten Variationen so erlebt haben. Das verbindet....

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Guest
Feb 03

Sehr schön beschrieben. Die bevorstehende Veränderung, von der man nichts weiß und nur ahnt, dass das Leben ganz anders sein wird, wie das, was man bisher kennt. Auch ich habe das durchgemacht. Ich war 13 Jahre alt. Heutzutage ist es kaum vorstellbar, dass man in ein neues Land auswandert, von dem man de facto nichts weiß und das man nur vom erzählen her oberflächlich kennt.....

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Guest
Feb 03
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Es ist schön zu merken, dass man nicht allein ist mit der Erfahrung. Wir sind viele und es ist gut sich auszutauschen. Vielen Dank für die Rückmeldung!

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