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Die rot-weiße Nabelschnur


Glückwunschkarte von Gabriela Alămorean, Fotomontage Hans Rothgerber

Rückblickend kommt es mir so vor, als wäre ich auch nach meinem Weggehen an die Stätten meiner Kindheit gebunden geblieben.

Im Gepäck hatte ich bei meiner Ausreise ein Notizbuch mit den Adressen meiner zahlreichen zurückgelassenen Freundschaften, das Heimweh wirkte als Katalysator dafür, in kurzer Zeit seitenlange Briefe nach Temeswar zu schreiben. Meine Zeilen an die schmerzhaft Vermissten wurden beantwortet, so dass ich nach wochenlanger Wartezeit mit Rückschreiben belohnt wurde, die mich, jedes ein feiner Faden, mit meinen Freundinnen und Freunden und damit auch mit ihrem Leben in der Stadt in der ich geboren war, in Verbindung hielten.

Wie wichtig diese Korrespondenz gewesen war, zeigt sich daran, dass sie in einer Metallschatulle geschützt fast 40 Jahre und zahlreiche Umzüge, in deren Folge unbarmherzig ausgemistet und weggeworfen wurde, überdauert hat. Ich fand sie eines Tages beim Aufräumen in unserer Garage, wo die eiserne Schachtel die fragilen Briefbögen beschrieben mit zärtlichen Zeilen wie ein Panzer geschützt hatte. 

Als ich die schon leicht verrostete Schatulle öffnete, fühlte ich mich wie durch einen Ariadnefaden aus dem Labyrinth des Erwachsenseins in mein damaliges Leben als Mädchen zurückgezogen. Dort warteten Alina, Tuli, Elena, Arpi, Pepisor, Bruno, Sanda, bzw die Teenager, die sie mal waren, mit ihren damals heiß ersehnten Schilderungen jugendlichen Lebens auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs.

Es wurde stolz von absolvierten Kontrollarbeiten und Aufnahmeprüfungen berichtet, vom anstrengenden Ernteeinsatz, von Ausflügen und Ferienlager, die Abwechslung boten im strengen Schulalltag. Die Ausbildung im real existierenden Sozialismus nahm einen großen Raum ein im Hoffen und Bangen meiner zurück gelassenen Kollegen, und führte mir die Unterschiede zu meinem doch sehr liberalen Gymnasium in München vor Augen. Verbindend wirkte die Musik: Hüben wie drüben hörten wir Duran Duran, Eurythmics, Madonna, Wham und hatten diesbezüglich einen sehr ähnlichen Geschmack. Es wurden auch Nachrichten über Familienmitglieder, Haustiere und Freunde ausgetauscht, die man nicht erreichen konnte. Ein kleines Netzwerk von Getreuen, von denen es die meisten in den nächsten Jahren aus dem überschaubaren Temeswar in die ganze weite Welt verschlagen sollte.



Zu Frühlingsbeginn stiegen Vorfreude und Aufregung, was die sowieso schon heiß ersehnte Post betraf. Dann wurden die Briefe dicker und ich konnte im Umschlag kleine Unebenheiten ertasten, die mein junges Herz höher schlagen ließen. Ich wusste schon, was mich darin erwartete, nämlich meist kleine Kärtchen, an die eine aus rot-weißen Seidenfäden verzwirbelte Kordel mit einem Anhänger geheftet war.



Noch von früher aus Temeswar kannte ich diese mărţişoare, Glücksbringer, die wir uns als Kinder gegenseitig Anfang März geschenkt hatten, Symbole des Frühlings und der Wiedergeburt der Natur. Wir trugen sie den ganzen Monat an unseren blauen Schuluniformen und wenn die Bäume zu blühen begannen, wurden sie abgenommen und daran festgebunden oder mit einem Wunsch auf den Lippen in die Zweige geworfen.



Ein uralter Brauch, so lernten wir, den schon die Vorfahren der Rumänen pflegten, die am 1. März nicht nur den Jahresanfang, sondern auch Mars feierten, der Gott des Krieges, aber auch der Fruchtbarkeit und Erneuerung war. Ob das tatsächlich stimmt oder Legende ist, spielt dabei keine Rolle. Tatsache ist, dass die mărțişoare dezente preisgünstige Freundschaftsbeweise waren, die jede jedem zukommen lassen konnte. 

Und so wurde ich auch nach meiner Auswanderung von den Freundinnen und Freunden weiterhin reich bedacht.



Meine ehemalige Klassenkameradin Alina schickte von ihrer Mutter Gabriela, die Architektin war, selbst kreierte Märzchen-Karten, die richtige Kunstwerke waren. Jahrelang erreichten mich im Frühling solche Glück- und Segenswünsche, in einer Zeit, in der nur die Korrespondenz die Bindung zu den Menschen in meinem Geburtsort aufrechterhielt, da persönliche Begegnungen nicht möglich waren. Sie trugen mich in einer Phase der Entwicklung und Neufindung in Deutschland. Rot und weiß, die Farben des “mărțișors”, ursprünglich die Gegensätze Winter-Frühling, Blut-Schnee, Feuer-Wasser symbolisierend, wurden für mich ein Bindeglied zwischen der Vergangenheit in Rumänien und meiner Zukunft in Deutschland.

Zu der gewundenen Schnur der mărțișoare kam das Herzblut dieser ganz besonderen Frau, die mir in zahlreichen seitenlangen Briefen, die wir uns über viele Jahre schrieben, auch noch als ich selbst schon Kinder hatte, eine mütterliche Freundin geworden war: Gabriela. Unzählige selbst gemachte Karten hüte ich wie eine Kostbarkeit, die Briefe voller Ratschläge, Ermutigungen, Lob und Lebensweisheiten zeugen von einem Mittel der Kommunikation, das es nun, da ich diese Zeilen schreibe, schon nicht mehr gibt.



Die Märzchen aber erfreuen sich nach wie vor großer Beliebtheit und man bekommt sie inzwischen auch in Deutschland. Sie eignen sich immer noch dazu, uns daran zu erinnern, wie wichtig schon kleine Gesten der Wertschätzung und Freundschaft sein können.

Für einen Neubeginn im Frühling steht auch ein neu entstandenes Format der Begegnung, zu dem die Münchener Banater Jugendtanzgruppe einlädt. Am Freitag, dem ersten März 2024 lädt sie Banaterinnen und Banater jeden Alters zu einem generationenübergreifenden Treffen in die Vereinsgaststätte Libero des MTV in der Werdenfelsstraße 70 ein. Der Nebenraum der Gaststätte bietet einen idealen Ort zum Treffen, Austauschen und Musik machen. Vielleicht auch um mal wieder das Tanzbein zu schwingen, auf jeden Fall um die Gemeinschaft zu pflegen und uns zu erinnern, wo wir herkommen. Dazu dürfen am ersten März die mărțişoare nicht fehlen, die Kinder und Eltern austauschen und den Gästen überreichen möchten.

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