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AutorenbildAstrid Ziegler

Die rot-weiße Nabelschnur


Rückblickend kommt es mir so vor, als wäre ich auch nach meinem Weggehen an die Stätten meiner Kindheit gebunden geblieben.

Im Gepäck hatte ich bei meiner Ausreise ein Notizbuch mit den Adressen meiner zahlreichen zurückgelassenen Freundschaften, das Heimweh wirkte als Katalysator dafür, in kurzer Zeit seitenlange Briefe nach Temeswar zu schreiben. Meine Zeilen an die schmerzhaft Vermissten wurden beantwortet, so dass ich nach wochenlanger Wartezeit mit Rückschreiben belohnt wurde, die mich, jedes ein feiner Faden, mit meinen Freundinnen und Freunden und damit auch mit ihrem Leben in der Stadt in der ich geboren war, in Verbindung hielten.


Wie wichtig diese Korrespondenz gewesen war, zeigt sich daran, dass sie in einer Metallschatulle geschützt fast 40 Jahre und zahlreiche Umzüge, in deren Folge unbarmherzig ausgemistet und weggeworfen wurde, überdauert hat. Ich fand sie für die Arbeit an diesem Buch in unserer Garage, wo die eiserne Schachtel auch den Angriff der Rötelmäuse abgewehrt hatte, die uns letzten Winter heimgesucht hatten und gnadenlos Löcher in die lose aufbewahrten Briefbündel der schottischen Austauschschülerin und der Verehrer späterer Jahre genagt hatten.

Als ich die schon leicht verrostete Schatulle öffnete, fühlte ich mich wie durch einen Ariadnefaden aus dem Labyrinth des Erwachsenseins in mein damaliges Leben als Mädchen zurückgezogen. Dort warteten Alina, Tuli, Elena, Arpi, Pepisor, Bruno, Sanda, bzw die Teenager, die sie mal waren, mit ihren damals heiß ersehnten mich heute rührenden Schilderungen jugendlichen Lebens auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs.

Es wurde stolz von absolvierten Kontrollarbeiten und Aufnahmeprüfungen berichtet, vom anstrengenden Ernteeinsatz, von Ausflügen und Ferienlager, die Abwechslung boten im strengen Schulalltag. Die Ausbildung im real existierenden Sozialismus nahm einen großen Raum ein im Hoffen und Bangen meiner zurück gelassenen Kollegen, und führte mir die Unterschiede zu meinem doch sehr liberalen Gymnasium hier in München vor Augen. Verbindend wirkte die Musik: Hüben wie drüben hörten wir Duran Duran, Eurythmics, Madonna, Wham und hatten diesbezüglich absolut den gleichen Geschmack. Es wurden auch Nachrichten über Familienmitglieder, Haustiere und Freunde ausgetauscht, die man nicht erreichen konnte. Ein kleines Netzwerk von Getreuen, von denen sich einige in den nächsten Jahren in der ganzen Welt aufteilen sollten, Elena in Kanada, Tuli in Bolivien, Alina in Paris.


Zu Frühlingsbeginn stiegen Vorfreude und Aufregung, was die sowieso schon heiß ersehnte Post betraf. Dann wurden die Briefe dicker und ich konnte im Umschlag kleine Unebenheiten ertasten, die mein junges Herz höher schlagen ließen. Ich wusste schon was mich darin erwartete, nämlich meist kleine Kärtchen an die eine aus rot-weißen Seidenfäden verzwirbelte Kordel mit einem Anhänger geheftet war.

Noch von früher aus Temeswar kannte ich diese “mărţişoare”, Glücksbringer, die wir uns als Kinder gegenseitig Anfang März geschenkt hatten, Symbole des Frühlings und der Wiedergeburt der Natur. Wir trugen sie den ganzen Monat an unseren blauen Schuluniformen, wenn die ersten Bäume zu blühen begannen, wurden sie abgenommen und daran festgebunden oder mit einem Wunsch auf den Lippen in die Zweige geworfen. Ein uralter Brauch, den schon die römischen Vorfahren der Rumänen pflegten, die am 1. März nicht nur den Jahresanfang, sondern auch Mars feierten, Gott des Krieges aber auch der Fruchtbarkeit und Erneuerung.


Alina schickte von ihrer Mutter Gabriela, die Architektin war, selbst gestaltete Märzchen-Karten, die richtige Kunstwerke waren. Jahrelang erreichten mich im Frühling solche Glück- und Segenswünsche, in einer Zeit in der nur die Korrespondenz die Bindung zu den Menschen in meinem Geburtsort aufrecht erhielt, da persönliche Begegnungen nicht möglich waren. Sie trugen mich in einer Phase der Entwicklung und Neufindung in Deutschland. Rot und weiß, die Farben des “mărțișors”, ursprünglich die Gegensätze Winter-Frühling, Blut-Schnee, Feuer-Wasser symbolisierend, wurden für mich ein Bindeglied zwischen der Vergangenheit in Rumänien und meiner Zukunft in Deutschland. Hier begann ich, kaum dass ich durch meine Rückkehr ins Banat wieder Zugang zu diesem schönen rumänischen Brauch hatte, selbst die kleinen Glücksamulette zum Frühlingsanfang zu verschenken. Ein sehr guter Münchner Freund trägt eine gehäkelte Blume, die ich ihm einst als Märzchen geschenkt hatte, heute noch als Glücksbringer am Revers.

Zu der gewundenen Schnur der “mărțișoare” kam das Herzblut einer ganz besonderen Frau, die mir in zahlreichen seitenlangen Briefen, die wir uns über viele Jahre geschrieben haben, auch noch als ich selbst schon Kinder hatte, eine mütterliche Freundin geworden war: Gabriela. Unzählige selbst gemachte Karten hüte ich wie eine Kostbarkeit, die Briefe voller Ratschläge, Ermutigungen, Lob und Lebensweisheiten zeugen von einem Mittel der Kommunikation, das es nun, da ich diese Zeilen schreibe, schon nicht mehr gibt.


Die Märzchen aber erfreuen sich nach wie vor großer, hier bei uns sogar noch größer werdender Beliebtheit. Anfang März 2020, kurz bevor der erste Lockdown der Corona-Pandemie gesellige Zusammenkünfte unmöglich gemacht hatte, feierte die rumänische community SGRIM zusammen mit der Landsmannschaft der Banater Schwaben in München einen Ball der “mărțișoare”. Auf der Bühne des Festsaals in dem selbstverständlich handgemachte Exemplare mit den traditionellen rot-weißen Kordeln zu erwerben waren, gab es ein gemischtes kulturelles Programm. Als typisch rumänische Einlage spielte die bekannte Panflötenspielerin Petruța Küpper ihre zauberhaften Melodien. Die Jugendlichen der Münchner Banater Tanzgruppe tanzten ihre schwungvollen Tänze in bayerischen Trachten. Wir waren mit Victoria, die an dem Tag zehn Jahre alt wurde, auf dem Fest. Ihr wurde von den Veranstaltern vor allen Gästen gratuliert und Glück gewünscht, natürlich bekam sie ein “mărțișor” an ihr Kleid gesteckt.






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