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In der Mohnkapsel



In der Mohnkapsel sitze ich nun Signalfarbe ausgelaufen Gedichte auf dem Schoß


So beginnt das Gedicht "Reiselied" von Katharina Eismann, das sie unter dem Eindruck unserer banat-tour.de geschrieben hat. Nicht nur der Lebenssommer, sondern auch die warme Jahreszeit sind vorbei. Der Klatschmohn, auf den die Zeilen anspielen, ist verblüht, seine signalroten Blütenblätter schon lange abgeworfen; wir sitzen wie kleine schwarze Mohnsamen in seinem dekorativen Fruchtstand, der Kapsel, und harren mit Gedichten aus. Zeit sich einige Gedanken zu dieser Pflanze zu machen, die seit Urzeiten durch ihr knalliges Aussehen auffällt und inspiriert.


Der Klatschmohn, lateinisch Papaver rhoeas, ist ein bescheidenes, anspruchsloses Gewächs, das sich seit der Steinzeit von Eurasien ausgehend in Europa verbreitet hat. Er ist Kulturbegleiter, d.h. er vermehrte sich in allen Ackerbaukulturen, indem seine winzigen Samen sich unter das Saatgut mischen, das von den Bauern auf den Feldern ausgebracht wird. Ein Überlebenskünstler also, der jahrtausendelang die bäuerlichen Kulturen flankierte und auf den Feldern Europas für rote Farbtupfer sorgte. Erst der massive Einsatz von Unkrautvernichtungsmitteln machte dem Mohn auf den Feldern Deutschlands so sehr den Garaus, dass er 2017 sogar zur Blume des Jahres ernannt wurde. So wollte die Loki Schmidt Stiftung um auf diese signifikante Ackerwildblume aufmerksam machen und zu deren Schutz beitragen.


Im Banat ist diese "Sommersprosse der Banater Heide" noch weit verbreitet und zum Glück noch nicht auf der roten Liste der vom Aussterben bedrohten Arten. In den Monaten Mai bis Juni sind Felder und Wegränder dort noch nach wie vor rot gesprenkelt. Die Bedingungen sind durch kalkhaltige sommerwarmen Lehmböden ideal, doch auch die Schwarzerde ist ein guter Nährboden. An Herbiziden wird zudem offenbar zum Wohl des Mohns gespart.

Im Banat hat der Klatschmohn Symbolwert und einen eigenen lustigen Namen, der wie viele Lehnwörter im Schwowischen Dialekt aus dem Ungarischen kommt: die Pipatsch. Als Kinder machten wir aus den Knospen des roten Mohns, die durch stachelige grüne Blättchen geschützt waren, kleine "Püppchen". Wir ließen sie durch sanften Druck aufplatzen, was man in der Banater Mundart "patschen" nennt. Die roten Blütenblätter quollen heraus und bildeten das Kleid einer imaginären Tänzerin. Pi-patsch, der Name kam mir so passend und logisch vor, wie die Bezeichnung “gepatscher Kukruz”, für das, was ich später Popcorn nannte. Wir Banater Deutsche lieben die Pipatsch, denn sie steht wie keine andere Blume für das Land, das wir verlassen haben. Eine Strophe in dem Gedicht "Roter Mohn" des Hatzfelder Dichters Peter Jung (1887-1966) lautet:


Wohl blühn der Blumen viele Im sonnverklärten Heideland, Doch keine ist, wie roter Mohn Dem Heidekind so nah verwandt.

Der Schwabenmaler Stefan Jäger hat in zahlreichen Bildern die leuchtenden Rubine im Ährenfeld aus der ersten Gedichtstrophe des Heimatdichters Jung verewigt. Und wer von uns ist nicht schon mal auf Banatbesuch im Sommer stehen geblieben und hat diese rot gesprenkelten Felder fotografiert und per Handy-Foto nach Hause geschickt. Zahllose Pipatschidyllen zeugen heutzutage jedes Jahr auch in den sozialen Medien davon, dass man im Banat weilt und die in Deutschland gebliebenen an der Pracht teilhaben lassen möchte.

Für die Ausgesiedelten und die im Banat Gebliebenen gibt es als lokales Printmedium die Banater Zeitung, deren Mundartseite auch heute noch "Pipatsch" heißt.

Peter Jung erwähnt in der letzten Strophe seines Gedichts sogar eine alte Sage, nach der die Pipatsch aus einem Tropfen Herrgottsblut, der auf die Erde fiel, gewachsen sein soll.


Im angelsächsischen Raum hat die Mohnblume, auf englisch “poppy” genannt, eine andere, besondere Konnotation. Nicht an Herrgottsblut, sondern an das Blut der zahllosen Soldaten, die im ersten Weltkrieg im Feld gefallen waren, soll die rote Blume erinnern. Sie wurde somit für die ehemaligen Alliierten zum Symbol für das Gedenken an die Gefallenen dieses brutalen Krieges.

Eines der bekanntesten englischsprachigen Gedichte über den ersten Weltkrieg, geschrieben von dem kanadischen Leutnant John Mc Crae, um die Trauer über den Tod seines Freundes zu verarbeiten, beginnt:


In Flanders Fields the poppies blow Between the crosses row on row…


Der rot blühende Klatschmohn, der als erster auf den Soldatengräbern in Flandern geblüht hat, erinnert an das Blut der Gefallenen und nährt die Hoffnung, dass das Leben weitergeht und deren Opfer nicht vergessen wird.

Im Gedenken daran trugen sogar die britische Königin Elizabeth II. und ihre Familie anlässlich der 100 Jahr Feier zum Ende des ersten Weltkriegs Klatschmohn am Revers. Und in München gab es im Jahr 2018 eine Kunstaktion am Königsplatz, in deren Rahmen ein Meer von 3200 riesengroßen Mohnblumen als Mahnmal für den Frieden aufgestellt wurden. Initiator war der Münchner Aktionskünstler Walter Kuhn, der mit den 70 cm großen Blüten aus rotem Seidenstoff, deren Drahtstängel in der Wiese verankert wurden, den 17 Millionen Kriegstoten des 1. Weltkriegs ein Denkmal gesetzt hat.


"Pipatschen" auf einem Friedhof in der Banater Heide

Die Pipatsch hat überhaupt einen Hang zu Grabstätten. Auch die verlassenen Banater Friedhöfe werden jedes Jahr aufs Neue von Pipatschen geschmückt, wenn man sie nur lässt und ihnen nicht mit Chemie zu Leibe rückt. Ein letzter Gruß, den die Banater Symbolblume ihren Heidekindern sogar noch im Tod zukommen lässt.

Doch auch über die europäischen Grenzen hinaus erfährt der Klatschmohn Beachtung. Eine andere, lebensfrohe Bedeutung wird ihm durch den Dichter und Maler Sohrab Seperi (1928- 1980) in der modernen persischen Poesie zugeordnet.


Solange es den Klatschmohn gibt, solange müssen wir leben.


schreibt der an den Folgen von Leukämie zu früh verstorbene Poet und meint damit die Liebe als Lebenssinn. Die roten Blütenblätter, die Freuden der Liebe symbolisierend, die schwarze Blütenmitte als Mahnung für den damit verbundenen Schmerz.


Während ich mit Benno und der Hündin Ursika in dieser trüben, kalten Zeit, die coronabedingt leer an realen Begegnungen ist, durch die kaum bevölkerte Münchener Innenstadt spaziere, erregt ein Kleid in einem Schaufenster meine Aufmerksamkeit. Signalfarbe darauf ausgelaufen, ich traue meinen Augen kaum, es ist auch mitten im Advent voller Pipatschen. Wir gehen in den Laden, ich probiere es an, es sitzt wie angegossen. Das Pipatschkleid weht einen Hauch von Jugend, Sommer und Liebe in die Leere des drohenden winterlichen Lockdowns. So wie es in dem Gedicht von Katharina Eismann, das mich nicht loslässt, heißt: Leere und doch wieder Pipatsch.

 

Inzwischen stehen die Mohnblumen wieder in voller Pracht und die durch das Virus verursachte Krise mutet an wie ein Alptraum, aus dem man wieder erwacht ist. Oft konnte ich das Pipatschkleid tragen und wenn ich es anhatte, fühlte ich mich dem Banat besonders verbunden und damit auch der kulturellen Vielfalt, die durch das Zusammenleben der Ethnien entstand.


Die rumänische Überlieferung hat eine eigene Erklärung für die Entstehung des Klatschmohns.

Eine Legende liefert eine anrührende Erklärung der Entstehung der Mohnblume, die auf rumänisch mac genannt wird. Der Sage zufolge sucht eine arme Witwe verzweifelt nach ihrem Sohn, den sie durch einen dunklen Wald ins Nachbardorf geschickt hat, um etwas Essbares zu bekommen. Als der Junge nicht zurückkehrte, irrte sie suchend und rufend durch das Gestrüpp der Heide. Obwohl Dornen ihre Füße und Beine zerkratzten, und ihr Blut den Boden netzt, ließ die Sorge um ihr Kind sie immer weiter laufen. Schließlich war ihre Suche erfolgreich, sie fand den entkräfteten Jungen und schloss ihn in ihre Arme. Als Mutter und Kind wieder glücklich vereint waren, verwandelten sich die Blutstropfen der Mutterliebe in rot leuchtende Blumen. Der Mohn steht hier für die Anstrengungen und die Opfer, die eine Mutter für ihr Kind bringt.


Während im Banat die Mohnblumen blühten, war ich von Christine Theresia Neu eingeladen, anlässlich des Kulturzirkels in Sackelhausen aus meinen Banat-Tour Blog-Texten zu lesen. Da bot sich der Artikel In der Mohnkapsel natürlich an. Er fügte sich gut ein in die Vielfalt der vorgestellten Texte und bildete eine Brücke zu den anwesenden Künstlern.


Ich stelle mir vor, wie bei dieser gelungenen Veranstaltung, in deren Rahmen gleichgesinnte Menschen, denen ihre Banater Herkunft am Herzen liegt, zusammengebracht wurden, winzige Samen, denen der Mohnkapsel ähnlich, auf fruchtbaren Boden fallen.

Vivat, crescat, floreat! Mögen sie blühen, wachsen und gedeihen!

Der Klatschmohn wurde 2017 sogar zur Blume des Jahres ernannt

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