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Mater Dolorosa


Ölgemälde der Mater Dolorosa im Banat

Der Besuch des Wallfahrtsortes Maria Radna gehörte schon immer zur willkommenen Abwechslung im rhythmischen Reigen der Ferientage in Paulisch. Zweimal gab es für mich jeden Sommer die Gelegenheit zur schönen Radnaer Kirche unter der alten Burgruine Şoimoş zu gelangen, zu Maria Himmelfahrt am 15. August und Maria Geburt am 8. September. Bis heute versuchen wir diese Tradition aufrecht zu erhalten.

In Radna merkte ich schon als Kind, dass Kloster und Wallfahrtskirche, die aus der Ferne wirkten als würden sie sich am Ende der pannonischen Tiefebene an die dahinter gelegene Hügelkette der Westkarpaten schmiegen, ein außergewöhnlicher Ort waren. Steigt man die hohe Treppe zur Kirche hinauf, die von Papst Johannes Paul II. im Jahr 1992 zur Basilika Minor erhoben wurde und blickt über die Marosch Richtung Lippa, wird einem klar, dass der Wallfahrtsort Maria Radna an einem Platz entstanden ist, der über eine besondere positive Energie verfügt.

Das merkten im Laufe der Geschichte zahlreiche illustre Gäste: Kardinäle, Bischöfe, Grafen und Barone statteten Kirche und Kloster ihren Besuch ab. Der ranghöchste Gast war 1768 Kaiser Josef II höchstpersönlich, der vom wohl organisierten Betrieb im Kloster und dem Zauber des Ortes so angetan war, dass er huldvoll gesagt haben soll: "Wäre ich nicht Kaiser in Wien, möchte ich Guardian in Radna sein". Für zehntausende Christen zahlreicher Nationen aus dem südosteuropäischen Raum, die jährlich durch eine beachtliche, durchs Brauchtum geregelte Logistik zur Gottesmutter pilgern, ist der Ort heilig.

Sogar zu Zeiten des Kommunismus war die Schar der Gläubigen in Radna, trotz aller Repressalien der Kirche gegenüber, sehr groß. Ich erinnere mich an die überfüllte Wallfahrtskirche in meiner Kindheit, in der wir uns in die Schar der Pilger einreihten. Das Gnadenbild wurde mir schon von meinen Großeltern gezeigt. In der riesigen Kirche, die damals größer wirkte als jedes Bauwerk in dem ich jemals war, hing es klein und dunkel über dem Altar. Wäre der prachtvolle silberne Rahmen, vom Wiener Goldschmied Maria Theresias hergestellt und die 1820 vom Erzbischof von Estergom gestifteten goldenen Kronen nicht gewesen, ich hätte es aus der Ferne gar nicht erkennen können.

Von dieser Geschichte und den speziellen Wunderkräften des Bildes erfuhr ich 2015 nach der Renovierung der Kirche im Rahmen einer mit viel Enthusiasmus und Fachkundigkeit durchgeführten Führung durch Pfarrer Andreas Reinholtz. Monsignore Reinholtz erzählte die Legende von einem aus Italien stammenden Bild aus Papier mit dem Antlitz der Gottesmutter, das in der von den Türken in Brand gesetzten, lichterloh in Flammen stehenden Kapelle nicht verbrannte. Die Darstellung wurde von den Franziskaner Patres aus den Trümmern der völlig zerstörten Kirche gerettet.

Diesem ersten Wunder aus dem Jahr 1695, dessen Kunde sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Region verbreitete, folgte bald eine neue unglaubliche Geschichte. Bei einem weiteren Angriff auf die Kapelle scheiterte ein türkischer Soldat, der die Anhöhe erklimmen wollte wieder am sanften Widerstand Marias. Der Huf seines Pferdes versank dermaßen in einem erweichten Stein, dass die Attacke abgebrochen werden musste. Dieses Stück Fels, mit der Einkerbung durch den Pferdefuß, das sich heute in der Kirche befindet, wurde uns durch Pfarrer Reinholtz gezeigt. Von der Wundertätigket der Gottesmutter zeugen auch die zahlreichen silbernen Votivgaben im Altarraum, alle von Menschen gespendet, die auch durch ihre Wunder erfahren hatten.


In einem Gang des Klosters Museums, in dem 500 Votivbilder ausgestellt sind, überfiel mich die Erinnerung an mein erstes “Sightseeing” in Radna, damals mit den Großeltern. Wir waren nach dem Gottesdienst auch den langen Korridor mit den gemalten Marienbildern abgeschritten und ich staunte über die vielen Darstellungen. So viele erkrankte Menschen hatten nach ihren Gebeten Genesung erfahren und zum Dank Bilder malen lassen, die der Kirche geschenkt wurden. Die wundertätige und machtvolle Maria rettet, beschützt und heilt.

In diesen letzten Ferien in Paulisch sollte ich im Sommer vor unserer Ausreise nach Deutschland auch eine andere Maria kennen lernen. Als damals die Neupaulischer Kirche renoviert wurde, brachte man alle beweglichen Gegenstände daraus in den Hof meiner Lissi Tante. Im Schuppen, vor Regen geschützt, standen Weihwasserbecken, Kerzen und allerhand liturgisches Gerät herum. Ich betrachtete die sonst aus der Ferne angebeteten Statuen, berührte sogar verstohlen die Heiligen, die sonst Tabu waren, um zu fühlen woraus sie gemacht waren.


Eine überraschende Entdeckung machte ich nach der Inspektion im Hof auch im Haus, im großen Zimmer, das damals unbenutzt und staubig vor sich hin schlummerte. Beiläufig vom Gang eingetreten schaute ich auf einmal in ein Gesicht. Meine Augen hatten unvergesslich Blickkontakt zu dem Antlitz in einem Gemälde aufgenommen. Ich blieb wie gebannt stehen, setzte mich vor das ziemlich große Bild und betrachtete es. Es stellte eine sitzende junge Frau dar, die mit Tränen in den Augen leidend zum Himmel blickte. An dem blauen Schleier und der Art der Darstellung erkannte ich sofort, dass es Maria war. Doch ihrem Schmerz ausgeliefert saß sie da, die Himmelskönigin. In ihrer Brust wo das Herz gemalt war, steckte nämlich ein Dolch. Ich konnte damals, ganz nah ran gehen und mich hautnah vergewissern, was die Seherworte Simeons, in der Kirche verlesen zu Mariä Lichtmess bedeuten: "Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen". Ich sah das Schwert im stilisierten Herzen, die Tränen, das leidende Gesicht und meine Kinderseele fühlte mit dieser verzweifelten Mutter. Mir war sofort klar, dass die Gottesmutter, die so viele Menschen gerettet hatte, dem Schickssal ihres Sohnes machtlos gegenüber stand.


Seit dieser ersten Begegnung schlich ich immer wieder in diesen letzten Ferien in Paulisch zu "meiner" Maria, als wollte ich sie vor dem endgültigen Abschied noch so oft wie möglich treffen. Mich beschlich eine Vorahnung, dass sich mein Leben für immer verändern würde. Ich sollte in die Welt hinausgehen, erwachsen werden, Söhne und Töchter haben. Aus Sorge um sie habe auch ich kleine Stiche, wie von Nadeln, im Herzen gespürt.

Das Bild, das man nach der Renovierung nicht wieder in die Kirche zurückgebracht hatte, verschwand nach der Wende. Wenn ich daran denke, schimmert aber der Glaube von damals noch durch. In solchen Augenblicken danke ihr, der wundertätigen, schmerzensreichen Mater Dolorosa, dass es meinen Kindern gut geht und bitte sie, den Dolch von meinem Herzen fernzuhalten.


Altar der Wallfahrtskirche Maria Radna mit dem Gnadenbild

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