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Nelu, ce cântăm astăzi ?! (Nelu, was singen wir heute?!)



Oh, chitara, chitara, glasul tău mânghâie inima (erste Zeile eines von Ioan Abfalter oft gesungenen Liedes)

Im zweiten Lockdown der Corona-Pandemie macht unser Münchner Mitbewohner Ioan Abfalter das, was er schon immer getan hat. Er nimmt immer mal wieder seine Gitarre aus dem Schrank und spielt die Lieder, die ihn sein ganzes Leben begleiten. Nelu, wie er von Freunden genannt wird, ist nämlich Vollblutmusiker, was hier zunächst keiner vermuten würde, der ihn bei der Gartenarbeit oder im Park mit den Hunden sieht.

Das verbindet ihn mit seinem ehemaligen Lehrer und Mentor Peter Kleckner, der Organist, Komponist, Dirigent und Musikprofessor im theoretischen Lyzeum in Lippa war. Wenn dieser im Alter mit Schlapphut und leger gekleidet durch seine Heimatstadt lief, in der Einkaufstasche Salami für seine geliebten Katzen, glaubte niemand, der ihn nicht kannte, ein musikalisches Genie vor sich zu haben.

Aufgewachsen war der begabte junge Ioan Abfalter bei seiner Paulischer Großmutter, einer Kriegswitwe, nach deren Mann Johann der Enkel eigentlich benannt worden war. Geld für Musikunterricht war keines da, dafür gab es in Paulisch ein gutes Orchester der Freikirche, das offen für junge Talente aller Konfessionen war.


Im Lyzeum in Lipova schließlich, mit dem begnadeten Pädagogen Kleckner als Musikprofessor, konnte er im Schulchor seine Stimme ausbilden, einen vollen unverwechselbaren Bariton, der auch später als Sänger und Gitarrist noch sein Markenzeichen war. In Arad gab es Mitte der siebziger Jahre einen Wettbewerb der Schulchöre. Noch heute erzählt Nelu gerne davon, wie der Lippaer Chor des Lyzeums mit seinem genialen Leiter und Dirigenten damals mit dem Gefangenenchor aus Verdis Nabucco den ersten Preis gewonnen hat. Die Darbietung, für deren Proben die jungen Sänger von anderen Unterrichtsstunden befreit wurden, war so unschlagbar gut, dass die "Humanisten" aus Lippa sogar die Favoriten aus dem musischen Lyzeum Arad auf den 2. Platz verwiesen.

Mit so einer soliden Basis wandte sich Abfalter der Unterhaltungsmusik zu und spielte, spielte und spielte: Romanzen, Zigeunermusik, alte rumänische Volksweisen. Mir erzählte er beiläufig, dass zu dieser Zeit, als man sich zu privaten "chefuri" (Festen), "aniversări" (Geburtstage) oder "zile onomastice" (Namenstage) traf, einmal auf einer Feier das "Magnetophon", der Vorläufer des Kasettenrekorders kaputt ging. Gebeten doch ein paar Stücke zu spielen, schaffte er es drei Stunden lang zu musizieren, ohne einmal ein Lied zu wiederholen. Er probte mit Freunden, lernte Lieder in Kneipen (rum. birturi) von schillernden Trinkern und Lebenskünstlern. Dort wurden auch die alten Tangos der Zwischenkriegszeit zum Besten gegeben, in der Bukarest eine Hochburg dafür war. Der Kulttango "Zaraza" lernte er nach dem Gehör im "Motor", der historischen elektrischen Straßenbahn auf dem Weg zur Schule von einem Kollegen. Der große Meister Klöckner korrigierte darin noch hier und da wohlwollend ein paar Noten für seinen Lieblingsschüler.

Als Spezialgebiet sollte der Gitarrist Ioan Abfalter in den folgenden Jahren die im Rumänien der Ceausescu-Ära aufkommende "muzică folk" entdecken, eine kleine Schwester der Amerikanischen "folk-music", die mit dieser die Bedeutung des gesellschaftspolitischen Hintergrunds gemeinsam hatte. In Rumänien waren es jedoch nicht wirklich Protestsongs wie in den USA, sondern national-poetische Folkloremusik, die vom Regime gefördert wurde und dieses stützte. Er spielt seine "folk-song"s nicht nur im Kulturheim und in der "casa armatei" (Haus der Armee) in Lipova, sondern auch im Rahmen von Wettbewerben für seinen Heimatort Paulisch in fast jedem Dorf des Banats. Die Zuschauer waren begeistert von den mitreißenden Auftritten und entlohnten ihn immer mit frenetischem Applaus.

Das bedeutendste Festival des Genres "folk" wurde das von Adrian Păunescu veranstaltete "Cenaclul Flacăra", das zunehmend zur Verherrlichung von Nationalismus und Diktatur ansetzen sollte.

Die Propagandatruppe von Păunescu schaute auf der Suche nach Talenten auch in Arad vorbei. Ioan Abfalter sollte im dortigen Theater vorspielen, ihm wurde ein Text laut seiner Erinnerung mit der Vorgabe "traiască şi înfloreasca" (d.h. wörtlich es lebe und blühe, gemeint ist das sozialistische Vaterland) zur Eigenkomposition vorgelegt. Stattdessen sang er, als er an die Reihe kam, eine selbst komponierte Vertonung des Gedichts "Ideal" des Poeten George Coşbuc, ein Liebeslied, das ihm vom Publikum "standing ovations" einbrachte.

Auf die Frage nach dem Warum, meinte er, er hätte etwas getrunken und Lust darauf gehabt zu spielen was er wollte. Kein bewußter Widerstand oder politischer Akt, einfach nur eine persönliche anarchische Geste unter Alkoholeinfluss. Doch auch das war zu den Zeiten natürlich ein politisches Statement, das seiner Karriere als nationaler Barde ein abruptes Ende setzte.


Das Musizieren in jeder Lebenslage blieb. Mitte der Achtzigerjahre, als das Regime immer dekadenter und brutaler wurde, für sechs Monate in ein Arbeitslager deportiert, spielte er auch dort mit seinen Leidensgenossen und erweiterte sein Repertoire um die Lieder der Geächteten.

Für Nelu ist es also nur normal, dass er auch jetzt die Gitarre hervorholt und spielt. Jemand wie er ist immun gegen die Folgen des Lockdowns. Aber uns setzt die soziale Isolation immer mehr zu. Wir gehen in sein dunkles kleines Zimmer, hören zuerst zu. Dann beginne auch ich zu singen, obwohl ich der Meinung bin, dass ich das gar nicht kann. Die Musik bringt mich nicht nur auf andere Gedanken, sie wirkt richtig beglückend. Sogar Victoria, die uns schließlich mit der Handykamera filmt, beginnt auf einmal mitzusingen, man hört ihre Kinderstimme bei den letzten beiden Aufnahmen. Das letzte Lied, das die Freiheit des Zigeunerlebens heraufbeschwört, weckt Hoffnung. Darauf, bald wieder selbstbestimmt und unbeschwert in die Welt hinaus ziehen zu können. Bis dahin werde ich wohl noch öfter fragen: "Nelu, cântăm?" Hoffen, dass er ja sagt und mich von seiner Musik mitreißen lassen.


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