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Mythos im Gepäck

Zur Ansiedlung und Aussiedlung der Banater Schwaben im Spiegel der kollektiven Imagination


Reproduktion und Fotomontage: Hans Rothgerber

Mythos und Migration sind zwei Schlagwörter, die zur Zeit kontroverse Diskussionen auslösen. Aktuell wird in Politik und Presse um die Deutungshoheit über diese Begriffe gerungen, selten geschieht es auf der Basis von fundierten Betrachtungen und Erkenntnissen. Oft scheitern Abhandlungen zu dem brisanten Thema an der sorgfältigen Definition dessen, was man unter diesen inzwischen inflationär gebrauchten Begriffen zu verstehen hat.

 

Handelt es sich bei einem Mythos lediglich um eine Geschichte, die Anspruch auf Geltung für eine behauptete Wahrheit hat, oder geht es um mehr. 

Mit Mythen verbinden wir auf den ersten Gedanken vor allem die Sagenwelt der Antike, die auch heute zur Allgemeinbildung gehört. Wer kennt zum Beispiel Romulus und Remus nicht, die beiden von einer Wölfin gesäugten Jungen, die als Gründer Roms gelten. 

Sie stehen auch in Temeswar, der in Westrumänien gelegenen wichtigsten Stadt der historischen Region Banat, als Denkmal, das auf die gemeinsame Abstammung von Rumänen und Italienern vom antiken Rom erinnern soll auf einer Säule am Rand der Corso genannten Flaniermeile.

Die Bewohner der weithin multiethnisch, multikonfessionell und multikulturell geprägten Hauptstadt des Banats haben die Kapitolinische Wölfin beim Stadtbummel vor Augen. 

Die Zusammensetzung der Bevölkerung dieser historischen Region, die einst am südöstlichen Rand der Habsburgermonarchie lag und seines bedeutendsten Zentrums, hat sich im 20. Jahrhundert sehr stark verändert und ist weiterhin im Wandel begriffen. Vor allem infolge der beiden Weltkriege und der kommunistischen Herrschaft kam es zu vielfältigen Wanderungs- und Auswanderungsbewegungen im Zuge derer vor allem die deutschen und jüdischen Einwohner das Land verließen. 


Ausgesiedelte Mitglieder der Banater Schwaben, der deutschen Minderheit des Banats, verfügen somit nicht nur über Migrationserfahrung. Sie brachten sowohl Erinnerungen aus dem multiethnischen Kulturraum als auch eigene Mythen im Zusammenhang mit ihrer kulturellen Identität im Gepäck mit. Denn die Mythenbildung erfüllte auch in modernen Vergesellschaftungsprozessen eine wichtige Funktion, wie in der neuesten soziologischen und literarischen Forschung von Prof. Anton Sterbling überzeugend herausgearbeitet wird. 

Wie das antike Weltreich Rom schufen sich in der Moderne auch Nationen und Bevölkerungsgruppen Gründungsmythen, in denen es um Identität, Lebenssinn und Orientierung geht. Es handelt sich um kollektive, sozialen Zusammenhalt erzeugende Erzählungen, die historisches Wissen, das in einem realen Kern erhalten ist, entsprechend mythisch umformen. 


Für die kollektive Selbstreflexion und die Bestätigung ihrer Identität als Banater Schwaben spielte in der Vergangenheit das Werk des Schriftstellers Adam Müller-Guttenbrunn eine bedeutende Rolle. In verschiedenen Werken, vor allem in seinem Roman Der große Schwabenzug entwirft der zwar aus der Banater Gemeinde Guttenbrunn stammende Autor, dessen Werk und Wirken aber von Wien ausging und beeinflusst war, ein groß angelegtes Tableau über die Neubesiedlung der Region. Der Roman gilt als Gründungsmythos über die Einwanderung der Siedler aus verschiedenen Gebieten des Habsburgerreiches und Westeuropas, die schließlich als Banater Schwaben bezeichnet wurden. Er enthält ein fiktives soziales Bild verschiedener Charaktere aus den Bevölkerungsgruppen, denen die in Südungarn gelegene Region zur neuen Heimat werden sollte. 

In Guttenbrunns literarischer Darstellung der Ansiedlung geht es vor allem um die standhaften Kolonisten, die noch in ihrer Vielfalt an Trachten, Mundarten und Glaubensrichtungen beschrieben werden und als fleißige Bauern und Handwerker überhöht im Vergleich zu den anderen Ethnien dargestellt sind. Dabei geht es, wie schon im Titel angekündigt, nicht so sehr um die individuellen Schicksale, sondern vielmehr um die Einheit des historischen Ereignisses der Ansiedlung der Einwanderer aus unterschiedlichen Herkunftsgebieten, die zur Bevölkerungsgruppe der  Banater Schwaben werden sollten. 


In der neuesten Forschung zu Guttenbrunn wird gar von literarischer Landnahme gesprochen, in der die Ansiedler gemäß der Darstellung des Romans in einem wüsten und entvölkerten Territorium wie in einem gelobten Land eine neue Heimat finden. 

Der als Banater Heimatschriftsteller und Erzschwabe titulierte Guttenbrunn lebte in Wien, seine Bücher wurden in einem Leipziger Verlag publiziert und zunächst im Banat noch kaum rezipiert. So schrieb er für ein nationalkonservatives deutsches bürgerliches Publikum, zu einer Zeit, als die deutsche Minderheit im Banat durch Magyarisierungsbestrebungen bedrängt wurde. Der große Schwabenzug erschien im Jahr 1913 am Vorabend des Krieges, der Europa und seine Landkarte völlig verändern sollte. Dessen Ende besiegelte die Zerschlagung des Habsburgerreichs und der Zankapfel Banat wurde im Vertrag von Trianon zwischen den Nationalstaaten Rumänien, Serbien und Ungarn aufgeteilt, was die Probleme der deutschen Minderheit bezüglich Identität und Einheit nur noch verstärken sollte.


„Die Einwanderung der Deutschen in Ungarn", Triptychon von Stefan Jäger (1877-1962)

Das malerische Pendant zu diesem Guttenbrunn'schen literarischen Einwanderungsmythos ist in den bildenden Künsten im oft gezeigten, reproduzierten und zitierten Bild des Banater Malers Stefan Jäger Die Einwanderung der Schwaben ins Banat (der heutige Titel) zu sehen. Die Auftragsarbeit wurde erstmals 1910 auf der Großen Landwirtschafts- und Gewerbeausstellung vor rund 5.000 Gästen in Gertjanosch enthüllt. Die beachtliche Größe von 5,1mx1,45m verdeutlicht die Wichtigkeit der kollektiven Vorstellung davon, wie die Einwanderung und Ansiedlung der Banater Schwaben vonstatten gegangen sein soll. In dem Triptychon sieht man links den langen Zug der ankommenden Einwanderer, Männer und Frauen mit Kleinkindern an der Hand und Säuglingen am Arm, die bis zu Kleidern und Hüten so abgebildet sind, wie Jäger sich damals nach Recherchen in Deutschland die Vorfahren vorgestellt hat. In der Mitte rasten die ermüdeten Mütter mit ihrem Nachwuchs während rechts im Bild die stattlichen Männer entstehende Siedlerhäuser fachmännisch begutachten. Dieses Ansiedlungsbild von Stefan Jäger sollte eine außerordentlich große Verbreitung und Popularität erfahren. Schon der Auftraggeber stellte dessen Potential erkennend, bald nach der Ausstellung des Bildes Reproduktionen her, die er in den Dörfern des Banats feilbot. 

Wie bedeutungsvoll und identitätsstiftend das Einwanderungsbild von Jäger ist, erkennt man auch daran, dass es 1944 aus dem Banater Museum in Temeswar in die Banater Ortschaft Blumenthal vor Bomben in Sicherheit gebracht wurde. 


Im Zuge der Auswanderungswelle der Banater Schwaben nach Deutschland gab es erneut eine Serie von Reproduktionen des Einwanderungsbildes durch die Landsmannschaft der Banater Schwaben. Es hängt bis heute in zahlreichen Wohnzimmern von ausgewanderten Banater Deutschen in der Bundesrepublik.

Das Original befindet sich als Leihgabe des Banater Museums an zentraler Stelle im Foyer des Adam-Müller-Guttenbrunn-Hauses, dem Sitz des Demokratischen Forums der Deutschen im Banat (DFDB).

So wie die Lupoaica am Corso ein Zeichen des identitätsstiftenden Ursprungs der rumänischen Bevölkerung ist, so steht das Bild im Adam-Müller-Guttenbrunn-Haus für den Gründungsmythos der deutschen Minderheit und symbolisiert kulturelle Identität und Einheit der Banater Schwaben. Das Gemälde trug zur Entstehung von Generationen prägende Vorstellungen bei, die in der kollektiven Erinnerung stark verankert sind. 


„Wider das Vergessen“, Triptychon von Helmut Scheibling (1940-2015)

So wie sich im Banat Anfang des 20. Jahrhunderts mit Guttenbrunns Werk und Stefan Jägers Einwanderungsbild ein Ansiedlungsmythos verfestigte, erfolgte in der Bundesrepublik Ende der 90er Jahre auch eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Auswanderung. Das Ende der 90er Jahre in Stuttgart entstandene Triptychon Wider das Vergessen, des aus Temeswar stammenden Malers Helmut Scheibling greift einerseits das Gemälde Stefan Jägers, Format und Thematik betreffend auf. Der Künstlers knüpft an das Einwanderungsbild an und setzt es fort. In dem mittleren Bildabschnitt stellt Scheibling nämlich Leben und Brauchtum in den banatschwäbischen  Dörfern, symbolisiert vor allem durch die Kirchweih, künstlerisch dar. Im dritten Teil seines Triptychons geht es um die Zäsur durch den Zweiten Weltkrieg, das Trauma der Deportation und die sich anschließende Flucht und Auswanderung der Banater Schwaben. Das Bild Scheiblings zitiert und greift das berühmte Einwanderungsbild auf, bildet aber gleichzeitig einen starken Kontrast, den man auch als düstere Dekonstruktion der Jäger'schen Idylle auffassen kann, in seiner bildhaften Expressivität passend zur Anti-Idylle, die Herta Müller in den gleichen Jahren in der Literatur entwirft.  

Der Spiegel, den der Künstler seinen Landsleuten vorhält, zeigt keine Landnahme, sondern das Gegenteil davon. Es sind Menschen, die das Land in Scharen verlassen wollen. Dabei wird auch das Freikaufen der Leute thematisiert, für die vom deutschen Staat ein Kopfgeld gezahlt wurde, um sich im wahrsten Sinn des Wortes vom Acker machen zu können. 


Historische Mythenbildung hat wie verschiedentlich dargelegt wurde, zweifellos ihre Funktion und ihre Berechtigung da sie die Möglichkeit der kollektiven Identitätsvergewisserung und Rückversicherung in der Vergangenheit bietet. Sie unterscheidet sich dabei von wissenschaftlich verbürgter Wahrheit. Das Verhältnis zwischen dem Mythos, der eine für die Gemeinschaft gültige Geschichte erzählt, und der differenzierten geschichtlichen Realität sollte  immer wieder kritisch hinterfragt werden. 


Im Zuge der europäischen Vereinigung in der EU rückten die nationalistisch grundierte Mythen in den Hintergrund und die Multikulturalität und ethnische Vielfältigkeit der Mitteleuropa und den Balkan verbindenden Region geriet in den Fokus. Auch im Zusammenhang mit der Europäischen Kulturhauptstadt  Temeswar im vergangenen Jahr wurde diese Tradition häufig erwähnt und gepriesen, dass sich auch hier die Frage bezüglich des Verhältnisses zwischen Realität und Mythenbildung stellt. 


In einer in Bewegung geratenen Welt bündeln sich verschiedene Migrationsströme in der Grenzregion Banat, die Ost und West verbindet. Flüchtlinge aus der Ukraine oder aus dem Mittleren Osten, aber auch immer mehr Rumänen, die die Freizügigkeit in der EU nutzen, ziehen westwärts. Es gibt aber auch eine Gegenbewegung. Seit der Europäischen Vereinigung suchen auch wieder viele Menschen aus Deutschland ihr Glück im Banat. Manche vor langer Zeit ausgewanderte Banater Schwaben kehren ganz oder teilweise zurück, aber auch  Künstler, Intellektuelle und Investoren aus Deutschland. Sie haben keine Banater Herkunft, dafür aber sehr viel Sympathie für diesen besonderen Wirtschafts-Sozial-und Kulturraum. Das prominenteste Beispiel ist der Temeswarer Bürgermeister Dominic Fritz, den es aus dem Schwarzwald schon im Alter von 19 Jahren in die einzigartige Stadt an der Bega verschlagen hat. In den Nachrichten war kürzlich zu lesen, dass er um die Staatsbürgerschaft ansuchen und offiziell Rumäne werden will. Ersteres, den rumänischen Pass wird er bestimmt bekommen. Die letzte Hürde dazu, die fehlerfreie Kenntnis der Hymne Rumäniens, hat er unter Beweis gestellt, als er die rumänische Nationalhymne Deşteaptă-te române am 1. Dezember auf dem Freiheitsplatz auf dem Klavier spielte. Ob Fritz dadurch wirklich Rumäne wird, müsste man im Spannungsfeld zwischen Realität und Mythos erst ausloten.

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