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Die Bildversteherin verstehen


Vor kurzem blickten Hans Rothgerber und ich zurück und stellten fest, dass unsere Internetseite banat-tour.de nun schon fast ein Jahr lang online ist. Ein Jahr, wie im Flug vergangen, weil unser Projekt, das wir im Lockdown der Corona Pandemie ins Leben gerufen haben, so rasant Fahrt aufgenommen hat. Dadurch, dass sich Gleichgesinnte zusammengefunden haben, wurde eine Lawine losgetreten. In der digitalen Welt entstand ein Netzwerk, das immer weiter geknüpft wird. Dadurch kommen wir mit Personen in Verbindung, die vorher unerreichbar in weiter Ferne schienen.

So geschah es, dass ich über Hedi Kirchner, die meine Beiträge im Blog entdeckt hatte, die Kunst von Walter Andreas Kirchner kennen lernte.

Ich erfuhr von Hedi, dass unsere Familien im Banat über die Herkunftsorte Perjamosch und Temeswar miteinander bekannt gewesen waren. Sie schrieb mir das Zitat: Unsere gemeinsame Herkunft verpflichtet nicht, aber bindet (Heinrich Lauer, Der kleine Schwab). Wie um gerissene Fäden wieder zusammenzufügen, bekam ich von ihnen zwei wunderbare Kataloge mit dem umfangreichen Werk von Walter Andreas Kirchner zugeschickt. Darin finden sich Gemälde voller Farbexplosionen, meisterhaft ausgeführte Skizzen und Zeichnungen und Fotos seiner monumentalen und ausdrucksstarken Skulpturen. In den beiden Büchern ist ein Werk dokumentiert und von Franz Heinz und Walter Konschitzky gewürdigt, das von einer beeindruckenden Fülle und Vielfalt ist. Während ich staunend darin blätterte, wurde ich auf eine Zeichnung aufmerksam, die den

Titel Die Bildversteherin trägt. Darauf ist eine Frau zu sehen, die in einer Gemäldegalerie vor einer Gruppe spricht. Mit erhobenem Zeigefinger scheint sie, wie vor einem Publikum aller Altersstufen, die abstrakten Bilder an der Wand zu erklären. Die Gruppe lauscht ehrfürchtig ihren Ausführungen. Allein ein Kind, mit einer eigenen Zeichnung in der Hand, blickt unbeeindruckt zum Betrachter.

Die Szene sehe ich in Verbindung mit der Auffassung Kirchners, wonach die Kunst nicht erklärt werden muss. Sie interpretiert sich selbst, auch ohne die Zwischenschaltung einer kunsthistorischen Theorie oder Kritik. Kein erhobener Zeigefinger und keine Aufzeichnungen sind dazu nötig, nur der eigene Zugang zum Werk. Schon in der Widmung, die mir den Bildband besonders kostbar macht, wird der Schlüssel zum Verständnis von seiner Kunst über ein Rilke-Zitat geliefert:


Kunstwerke sind von einer unendlichen Einsamkeit und mit nichts so wenig erreichbar als mit Kritik. Nur Liebe kann sie erfassen und helfen und kann gerecht sein gegen sie.


Beim Betrachten der Szene in der Gemäldegalerie musste ich daran denken, mit wie vielen zahllosen Gruppen ich in den letzten 20 Jahren in München und Umgebung im Rahmen meiner Tätigkeit als Gästeführerin unterwegs gewesen war. Während ich aus der Geschichte und Stadtgeschichte erzählte, hingen die Menschen, genauso wie im Bild dargestellt, an meinen Lippen. Manchmal führte ich auch durch Museen. War auch ich eine "Bildversteherin"? Ich sah mir das Werk genauer an und amüsierte mich über den Selbstvergleich. Nein, ich sprach nie dozierend mit erhobenem Zeigefinger und ich hatte auch keine Notizen dabei, denn alles Nötige war in meinem Gedächtnis. Vielmehr sahen wir uns die ausgestellten Werke gemeinsam an. In der Gruppe waren wir vor allem Bildbetrachter und tauschten uns darüber aus. Monologe vor Publikum wollte ich nicht halten. Es war mir immer viel lieber wenn Teilnehmer sich durch Fragen oder Beobachtungen einbrachten. Darauf antwortete ich, griff Gedanken auf und spann sie weiter.


Ich schreibe in der Vergangenheit, denn Corona hat meiner über 20jährigen Tätigkeit ein jähes Ende bereitet. Am 1. März 2020 war ich mit der letzten Gruppe unterwegs. Es war ein Busunternehmen mit seinen Kunden, das in einen neuen Reisebus investiert hatte. Wie mit einer Vorahnung, dass etwas sich anbahnte, schauten wir uns München nochmal genau an. Zuerst spazierten wir zusammen durch die historische Altstadt um zu den Sehenswürdigkeiten zu gelangen, die nur zu Fuß zu erreichen sind, wie das neugotische neue Rathaus. Dann fuhren wir mit dem Bus über die Prachtstraßen Ludwig-, Prinzregenten- und Maximilianstraße in die schönsten Stadtviertel wie Haidhausen, Bogenhausen und Schwabing. Die Rundfahrt endete am Schloss Nymphenburg, wo ich den Eindruck hatte, dass ganz München unterwegs war. Es war der erste schöne Frühlingstag und die Leute freuten sich auf Wärme, Luft und Licht. Ich weiß noch genau, wie ich während der Anfahrt von meinem erhöhen Platz im Bus auf die Spaziergänger blickte, die zu Tausenden an der Auffahrtsallee entlang flanierten. Zwei Wochen später sollte der Lockdown alles lahmlegen.

Was wurde wohl aus dem Reisebusunternehmen, das den neuen Bus wohl kaum einsetzen konnte? Und was aus den vielen Bildversteherinnen, meinen Kolleginnen und Kollegen? Sowohl das Reisen als auch die Art Kunst und Kultur zu vermitteln haben sich seitdem nachhaltig verändert.

Ich hatte das Glück über das Billeder Heimatblatt Hans Rothgerber kennen zu lernen. Durch ihn ermuntert, begann ich vor einem Jahr Texte zu verfassen. Auch stand ich zum ersten mal vor einer Videokamera. Ein Jahr nach meiner letzten realen Nymphenburg Führung entstand das erste Video vor dem Schloss, denn der Eintritt war damals nicht erlaubt. Und heuer hoffen wir, dass die Corona-Einschränkungen bald aufgehoben werden.


Auf Youtube gibt es ein knappes Video in dem der Maler, Bildhauer und Grafiker Kirchner sehr präzise Auskunft über sein Kunstverständnis gibt. Seine Motivation folgt einer inneren Notwendigkeit. Er bekennt, dass er gerne um die Jahrhundertwende gelebt hätte, in einer Zeit des Umbruchs und der Professionalität. Vor einem modernen Akademismus und einem Abgleiten ins Dekorative grenzt er sich deutlich ab. In wenige Minuten ist das Wesentliche gesagt. Neben Ausstrahlung und Charisma hört man auch den vertrauten Banater Einschlag heraus.

Von der Bindung durch unsere gemeinsamen Wurzeln geht für mich eine große Wärme und Herzlichkeit aus. Ein gutes Klima um Kunst zu erleben. Hoffentlich können wir die vielfältigen Werke von Walter Andreas Kirchner bald auch wieder in der Realität betrachten und mit Liebe erfassen. So wie der große Künstler Rainer Maria Rilke uns das nahelegt.



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