Die Mariensäule auf dem Marienplatz in München ist ein barockes Denkmal, das zum Dank dafür errichtet wurde, dass die Stadt vor der Zerstörung im 30-jährigen Krieg (1618-1648) verschont geblieben war. Auf einer Säule steht die Gottesmutter Maria, als Patrona Bavariae, das Jesuskind auf dem Arm.
Die Eckpositionen am Fuß der Säule sind mit vier Engelskindern des Barock besetzt, die mit antiken Panzern gerüstet die Allegorien der Hauptübel der Menschheit bekämpfen. Einer der putzigen Putti erhebt sein Schwert um einem Basilisken den Kopf abzuschlagen. Dieses Fabelwesen zwischen Schlange und Hahn wurde vor Jahrhunderten als Ursache von Seuche und Krankheit betrachtet. Sein Atem, dem, heute würde man sagen infektiöse Aerosole entströmten, als tödlicher Hauch gefürchtet. Man stellte sich vor, dass die Basilisken die Menschen auch aus den Brunnen über das Wasser anstecken.
Die Krankheit, das Hauptübel der Menschheit, war nicht nur zur Zeit des 30-jährigen Krieges, als die Pest wütete, gefährlich. Epidemien rafften immer wieder Menschen dahin, unter den Opfern waren in früheren Zeiten auch viele Kinder.
Als ich an Allerheiligen auf den Spuren der Vorfahren ins Banat fuhr, war ich auch auf der Suche nach einem hundert Jahre alten Kindergrab. Dieses war seit einem halben Jahrhundert von keinem Angehörigen mehr besucht worden. Die Geschichte über den Tod des 9-jährigen Ernst, oder Ernö, wie er genannt wurde, hatte ich, selbst in jugendlichem Alter, von meinem Großvater gehört. Sein Bruder war eines Tages erhitzt und verschwitzt nach ausgelassenem Spiel nach Hause gekommen. Durstig wie er nach dem Toben war, hatte er kaltes Wasser getrunken und war kurz darauf erkrankt. Der Atemwegsinfekt verschlimmerte sich zu einer Lungenentzündung. In der Zeit des ersten Weltkriegs, als es noch keine Antibiotika gab, ein Todesurteil für den kleinen Ernö.
Solange ich ein Kind war, ermahnte mich mein Großvater stetig, ja kein kaltes Wasser zu trinken, wenn ich verschwitzt und erhitzt war. Ich sollte immer erst warten bis ich mich ein wenig abgekühlt hatte. Er wusste nichts über Basilisken im Brunnen mit verseuchtem Atem, doch er trug die Erinnerung an das große Leid in sich, das damals über seine Familie gekommen war. Es überschattete die heiteren Lausbubengeschichten, die er aus seinem Geburtsort erzählte und denen ich so gerne lauschte. Hopsenitz, wo mein Perjamoscher Urgroßvater Anfang des 20ten Jahrhunderts als Lehrer eingestellt worden war, wollte ich besuchen, sehen, endlich kennen lernen. Das kleine Dorf mit dem lustigen Namen, wo mein Großvater und seine Brüder Krähennester aushoben, wo sie draußen spielten bis die Mutter sie abends ins Haus rief: "Franzi, Anti, Niki! Hände waschen, Pipi machen, schlafen gehen!" Das kleine Dorf, in dem der ältere Bruder Ernö begraben wurde.
Als ich zusammen mit Hans Rothgerber in die Peripherie des rumänischen Banats, südlich von Temeswar, fuhr, wollten wir auch der Frage nachgehen: was bleibt an einem Ort, den die Familie schon vor hundert Jahren verlassen hatte. Sie kehrte nämlich bald nach dem Tod des Kindes nach Perjamosch zurück, wo mein Urgroßvater Schuldirektor wurde.
Hopsenitz, wie ein Nest in der Heide gelegen, empfing uns übersichtlich und menschenleer. Die Straße führt schnurstracks zur Kreuzung, wo sich die Kirche befindet und damit das Ortszentrum. Als wir ausstiegen und uns umschauten, bot sich schon auf den ersten Blick ein Bild des Verfalls: Die Kirche hatte kein Dach mehr, in ihr wuchsen Bäume und darum herum wucherten Büsche. Man konnte nur noch erahnen, dass daneben mal Häuser gestanden haben. Manche der halb eingefallenen Gebäude in der Nachbarschaft standen noch der Vergänglichkeit preis gegeben. Dort musste es irgendwo gewesen sein, das Geburtshaus meines Großvaters, denn es lag sicherlich in der Nähe der Schule und diese wie gewöhnlich neben der Kirche. Wie Detektive suchten wir nach Spuren und fotografierten eingefallene Dächer und Mauerreste.
Dann fanden wir den Friedhof am Dorfrand, zu dem man über einen Feldweg gelangt, der um die Siedlung herum führt, vorbei an einem der typischen alten Ziehbrunnen der Banater Heide. Der Friedhof war offensichtlich vor kurzem gepflegt worden, das Unkraut beseitigt, so dass die Grabsteine, die es dort gab, gut zu sehen waren. Hier wuchs bestimmt Gras auch über Gräber, deren Kreuze in dem vergangenen Jahrhundert verschwunden waren. Als wir die Reihen abschritten war ich erschüttert über die zahreichen Kindergräber.
Die Sterblichkeit war früher im Banat bei den Kleinsten sehr hoch gewesen. Im Lauf der Zeit hatte es Cholera-, Scharlach- und Typhusepidemien gegeben, die in den Familien zahlreiche Opfer gefordert hatten. Meine Urgroßmutter, die ihren Sohn in diesem Friedhof zu Grabe getragen hat, hatte Ende des 19. Jhd in Perjamosch fast alle ihre Geschwister im Kindesalter verloren. Doch Ernös Grab konnten wir auf dem unbekannten Friedhof trotz gründlicher Suche nicht ausmachen.
Immerhin hatten wir es versucht, dachte ich wehmütig als wir entschlossen waren die Rückfahrt nach Temeswar anzutreten.
Doch zurück im Ort, an der Kirche ohne Dach angekommen, bemerkten wir am Straßenrand eine Frau. Es sah so aus, als würde sie in dem sonst menschenleeren Ort nicht zufällig dort stehen. Hans hielt das Auto an und meinte: "Die hat uns bestimmt etwas zu sagen”.
Ich stieg sofort aus und sprach die Wartende, die etwa in meinem Alter war, an. Sie nannte mir ihren Namen: Käthe. Sie hatte vom Fenster ihres Hauses aus unser Auto mit deutschem Kennzeichen gesehen, woraufhin sie neugierig wurde, welche "ausgewanderten Hopsenitzer" wohl zu Besuch gekommen sind. Welch ein Glück für uns, denn sie und ihre Geschwister waren die letzten Deutschen im Ort. Käthe sprach selbstverständlich schwowisch, den Dialekt den man in den Banater Dörfern nur noch selten hört. Es entstand ein Dialog, der alles verändern sollte. "Mein Urgroßvater war zur Zeit des ersten Weltkrieges Lehrer hier in Hopsenitz gewesen", stellte ich mich vor. Als sie seinen Namen hörte, sagte sie mit ruhiger Stimme, in der ein Anflug von Aufregung und Freude zu hören war: "Ja, der Höckl Lehrer. Meine Großeltern waren bei ihm in der Schule und haben viel von ihm erzählt. Sein Sohn war gestorben, auf dem Friedhof befindet sich sein Grab." Als ich das hörte war ich so verblüfft, dass es mir fast die Sprache verschlug.
In Käthes Begleitung fuhren wir ein zweites Mal zum Friedhof. Sie führte uns an das Grab, das wir, obwohl zentral neben der Kapelle gelegen, übersehen hatten, weil es in so gutem Zustand war. Ich hatte nach ungepflegten Gräbern Ausschau gehalten. Käthe erzählte, dass ihre Familie, der die Gräber daneben gehörten, all die Jahrzehnte die letzte Ruhestätte des Lehrersohns mitgepflegt hatte. Nachbarschaftshilfe über den Tod hinaus.
Wehmütig wies sie auf das Grab ihres Sohnes, der als Baby gestorben war. Sie hatte also auch ein Kind verloren. Daneben fiel mein Blick auf ein verwittertes steinernes Kreuz. Es war unbeschädigt, die Schrift noch ganz gut lesbar. Ernst Höckl stand darauf, geboren im Jahr 1909 gestorben 1918, betrauert von Eltern und Geschwistern. Es gab es also tatsächlich noch, das Grab.
Als ich es da so vor mir sah, in Stein gemeißelt, wurde mir das ganze Ausmaß der Katastrophe erst bewusst! Das unsagbare Leid von Eltern, die ihr Kind zu Grabe tragen müssen, der tiefe Schmerz der Angehörigen. Der Dichter Friedrich Rückert, der selbst zwei Kinder verloren hatte, verewigte dieses Unglück so berührend in seinen "Kindertotenliedern":
Sie haben das Herz aus der Brust mir genommen Und habens gelegt in ein Grab; Das Leben, es ist mir abhanden gekommen, Es ist mir gegangen hinab.
Das, was Rückert nach dem Tod seiner Tochter Luise und seines Sohnes Ernst (welch Zufall die Namensgleichheit!) in der größten Totenklage der Weltliteratur in Verse gefasst hat, war auch für Käthe, für meine Urgroßmutter und für unzählige andere Menschen traurige Wirklichkeit. Ein Trauma, das selbst die nachfolgenden Generationen, zu denen auch ich gehöre, nicht unberührt lässt.
In Gedanken an das verwitterte Steinkreuz fallen mir die kleinen Engel an der Mariensäule ein und die Übel der Menschheit die sie bekämpfen und die ebenso zahllose Opfer gefordert haben. Auch der Krieg, der Hunger, der fanatische Glaube, dargestellt in den allegorischen Figuren des Denkmals mahnen uns, wie mächtig der Tod ist.
Käthe, unsere gute Fee, ohne die diese Geschichte ganz anders ausgegangen wäre, zeigte uns auch das ganze Ausmaß der Zerstörung der Hopsenitzer Kirche durch Naturgewalt. Bei einem schlimmen Erdbeben, das 1991 in der Region viel Schaden angerichtet hatte, war das Dach eingestürzt. Wir schlenderten zusammen durch das nach oben offene Bauwerk, in dem Bäume und Gras wuchsen und Tauben hausten. Hier wurden sie sicherlich getauft, mein Großvater und seine Brüder, dachte ich. Hier war Ernö vielleicht Ministrant gewesen. Käthe, ganz Kirchenführerin in diesem abgedeckten Gotteshaus, erzählte, dass vor ein paar Jahren ein Investor die Kirche als Konzert-Location entdeckt hatte. Zu klassischer Musik wurde eine Lightshow veranstaltet. Wie schafft man es, Leute dazu zu bewegen, zum Kulturgenuss an diesen abgelegenen Ort zu kommen, wunderte ich mich. Wenn das kein Einzelfall bliebe, wäre Hopsenitz sogar eine Attraktion im Banat.
Dann verriet uns Käthe, dass sie schon sehr konkrete Pläne bezüglich ihrer letzten Ruhestätte hat. Sie möchte, obwohl sie in Deutschland arbeitet und dort auch bleiben könnte, unbedingt in Hopsenitz bestattet werden, da sie das kleine Dorf als Heimat betrachtet. Anrührend erklärte sie, dass sie dereinst - in hoffentlich ferner Zukunft - in Ernös Grab, über dem Sarg des Kindes, zur letzten Ruhe gebettet sein möchte. Dazwischen wird eine Platte sein, damit die Totenruhe des Kindes nicht gestört wird, erklärte sie. "Was hat der Junge für ein Glück", dachte ich. In bester Gesellschaft wird er liegen, weiterhin im Tode adoptiert von Käthe und ihrer Familie.
Laßt im Grünen mich liegen
Unter Blumen und Klee,
Unter Blumen mich schmiegen,
Unter Blumen und Klee!
Wo ich auch nach dir frage Find ich von dir Bericht Du lebst in meiner Klage und stirbst im Herzen nicht.
Wieder fielen mir Rückerts Kindertotenlieder ein. Während ich darüber nachdachte, wurde mir plötzlich klar was bleibt.
Es ist unglaublich aber die Erinnerung an den kleinen, zu früh verstorbenen Ernö, blieb in Hopsenitz auch nach hundert Jahren erhalten, weil es Menschen gab, die von seinem Schicksal gerührt waren. Und in der Familie wurde seiner in Liebe gedacht. Mein Großvater hat mit zahlreichen unermüdlichen Erzählungen über seinen großen Bruder dafür gesorgt. Und ich wiederum werde so lange ich lebe von meinem Großvater erzählen und seine Erinnerungen weitergeben. Funktionierende zwischenmenschliche Beziehungen wie Liebe, Zuneigung und selbst gute Nachbarschaft wirken fort, sogar wenn Gebäude eingestürzt oder verschwunden sind.
Auch in der eindrucksvollen Vertonung der Kindertotenlieder Friedrich Rückerts durch Gustav Mahler findet sich eine hoffnungsvolle Botschaft zum Schluss. Nämlich, dass der Tod zwar mächtig ist, doch mächtiger als er ist die Liebe.
Vielleicht werden die Kindertotenlieder ja mal im Rahmen eines Konzerts in der zum Himmel offenen Kirche erklingen, direkt zu den geharnischten Engeln aufsteigen.
Das ist unwahrscheinlich? Nicht so sehr wie das Erlebnis, in Hopsenitz das schon seit hundert Jahren verlassene Grab eines kleinen Jungen zu finden.
Der Vetter Matz aus Hopsenitz würde sich in Grabe umdrehen...