Die Skulptur Chimäre von Walter Andreas Kirchner vereint Jugend und Alter. Der Kopf des Mischwesens, das durch den runden Rücken und die seitlich angelegten Schenkel auch einem Tier ähnelt, ist der eines hübschen Jungen, der den Betrachter freundlich herausfordernd anblickt. Er kauert in einer Art Hocke, die an den Körper eines Wolfes denken lässt. Beim Betrachten von der Seite fällt zudem ein buschiger Schweif auf, der im bärtigen Haupt eines alten Mannes endet. Das Kunstwerk sagt aus, dass in einem Lebewesen von Anfang an schon die Entwicklung von der Jugend zum Alter angelegt ist.
Oida mo! (Alter!) der Ausruf, den viele aus der Generation meiner Kinder benutzen, um Erstaunen auszudrücken, ist ein Dauerbrenner im Jugendslang.
Wir leben in einem Spannungsfeld zwischen Jugendwahn und alternder Gesellschaft. Die Medien versuchen uns im Verbund mit einer ganzen Anti-Aging-Industrie vorzugaukeln, dass es erstrebenswert ist, ewig jung und gut auszusehen. Und doch altern wir alle. Darüber sollten wir froh sein, besteht doch die einzige Alternative darin, jung zu sterben und wer will das schon!?
Ich selbst begann mir um meinen 50-ten Geburtstag herum über das Altern Gedanken zu machen. Damals dämmerte es mir allmählich, dass ich die Mitte meines Lebens wohl schon überschritten habe.
Doch wo genau sich die Mitte, der Median des irdischen Daseins befindet, verschiebt sich von Generation zu Generation. In den letzten hundert Jahren hat sich die Lebenserwartung verdoppelt. Während wir derzeit von einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 78,9 Jahren für Männer und 83,6 für Frauen ausgehen, wird sich die Spanne der Jahre, die den Menschen in Zukunft gegeben sein wird, noch zusätzlich verlängern. Während im Jahr 2021 nur 0,028 % der Menschen in Deutschland hundert Jahre alt und älter wurden, wird laut der Prognose schon jedes dritte neugeborene Mädchen ein dreistelliges Lebensalter erreichen.
Die Altersforschung, die sich verstärkt mit diesem Phänomen der gesteigerten Lebenserwartung beschäftigt, hat neben dem medizinischen Fortschritt verschiedene Faktoren ermittelt, die ein langes Leben begünstigen.
Dass man seine Gesundheit über Ernährung, Bewegung und Entspannung positiv beeinflussen kann, ist inzwischen allgemein bekannt. Um lange zu leben, muss man wohl auch gute Gene, und ein gewisses Mindset, das heißt, eine bestimmte positive Einstellung zum eigenen Dasein haben. Viele soziale Kontakte, mit denen man interagiert und sich austauscht, wirken auch lebensverlängernd.
Man fand auch heraus, dass die Menschen in bestimmten Gegenden besonders alt werden. Diese geografischen Regionen, in denen es überdurchschnittlich viele 100-jährige gibt, werden in der Wissenschaft als blaue Zonen bezeichnet. Die Forscher wollen diesbezüglich in Süditalien fündig geworden sein oder auf der japanischen Insel Okinawa. Maritime Kost und ein Umfeld, in dem ältere Leute bis ins hohe Alter in der Gemeinschaft integriert bleiben, haben dort Tradition.
Eine Region, die in Bezug auf die Langlebigkeit der Menschen auch ins Visier genommen werden könnte, ist das Banat. Im Bekannten und Verwandtenkreis oder aus den Dateien der Heimatgemeinschaften hört man immer wieder, dass Landsleute ihren 100 jährigen Geburtstag feiern durften.
Als Beispiel einer Gemeinde, in der Menschen, die von dort stammen, ein hohes Alter erreichen, kann das Heidedorf Billed herangezogen werden. Schon der Blick in die eigene Familie zeigt eine Häufung von Mitgliedern, die sehr alt wurden. Meine Großmutter starb im Alter von 94 Jahren, der Großvater kurz vor seinem 99-ten Geburtstag. Auch die vier Geschwister meines Otas wurden weit über 90 Jahre alt. Zufall oder gute Gene? Die Heimatgemeinschaft Billed gibt seit 30 Jahren eine Publikation heraus, in der man eine Rubrik als Einwohnermeldeverzeichnis bezeichnen könnte. Dort werden neben Geburten und Eheschließungen vor allem die Geburtstage der Billeder aufgeführt und den Jubilaren jeweils namentlich gratuliert. Der Blick in das aktuelle Heimatblatt zeigt, dass es derzeit sage und schreibe 326 in der Ortskartei erfasste Personen gibt, die über 80 Jahre alt sind. Davon werden heuer fünf 100 Jahre alt und älter. Die älteste Billederin ist inzwischen 103 Jahre alt.
Ähnliche Entwicklungen kann man sicher auch für andere Banater Ortschaften ausmachen.
Doch wie kommt es, dass doch so viele unserer Landsleute so alt werden? Spielt dabei die Ernährung eine Rolle? Anders als in Süditalien und den japanischen Inseln, den von der Forschung bisher in puncto Langlebigkeit untersuchten blauen Zonen gibt es im Banat weit und breit kein Meer und somit auch nicht die viel gepriesene maritime Kost. Fisch ist nicht gerade das Lieblingsessen des Banaters, von Meeresfrüchten ganz zu schweigen! Unsere Leute sind keine Verfechter von veganer Kost, für viele gilt das berühmte rumänische Sprichwort: cea mai bună legumă este porcul (Das beste Gemüse ist immer noch das Schwein).
Doch wenn wir uns an den Speiseplan unserer Großeltern erinnern, stellen wir fest, dass es oft frisches Gemüse und Obst aus dem Garten gab und viele fleischlose Wochentage. Auch gab es früher in fast jedem Haushalt selbst eingemachtes Sauerkraut, von dem man heute weiß, dass es aufgrund seiner Probiotika lebensverlängernd wirkt. Gleiches gilt für die köstliche hausgemachte saure Milch, die anders als unsere heutigen Joghurts nicht pasteurisiert war und noch jede Menge für die Darmflora nützliche Substanzen enthielt. Fast alle Speisen waren frisch und nicht industriell hergestellt, enthielten keine Geschmacksverstärker oder Farbstoffe und kamen meist aus eigener Herstellung. Auch das Fleisch war auf dem Land absolut bio. Glückliche Hühner, Gänse und Enten bevölkerten den Hof. Und auch das obligatorische Schwein, dessen Fleisch, Schinken und Würste die Basis für die Wintervorräte bildeten, führte im Stall meist ein würdiges Dasein im Vergleich zu den bedauernswerten Artgenossen in der heutigen Massentierhaltung.
Ein weiterer Faktor, der im Leben unserer Banater Großeltern eine wichtige Rolle gespielt hat und wohl lebensverlängernd wirkte, war die Alltagsbewegung. Man fuhr mit dem Fahrrad durchs Dorf oder ging zu Fuß, im Garten hackte und mähte man, der Boden wurde umgegraben und das Unkraut daraus manuell entfernt. Die Zecker (Tragetaschen) mit dem Einkauf wurden nach Hause geschleppt. Unsere Großeltern brauchten kein Fitnesscenter um fit zu bleiben, die alltägliche Bewegung reichte ihnen völlig aus.
Altersforscher nennen vor allem die soziale Einbindung des Einzelnen in eine Gemeinschaft als begünstigend, um ein hohes Alter zu erreichen.
In den Banater Dörfern spielte der Verband der Großfamilie noch eine wichtige Rolle. Und auch die Treffen mit Nachbarn und Bekannten hatten einen hohen Stellenwert im täglichen Leben. Nicht nur, dass man die Feste im Jahreskreis zusammen feierte, man teilte auch den Alltag und wenn man sich auf der Gasse traf, nahm man sich Zeit, um sich auszutauschen. Legendär ist aus heutiger Sicht das Moje die sonntäglichen Besuche, bei denen die Nachbarn im Dorf zusammensaßen und erzählten. Ob Singen, Karten spielen oder Tanzen, Hauptsache war das aktive Eingebundensein in der Dorfgemeinschaft bis ins hohe Alter.
Dabei durfte auch mal ein Gläschen getrunken werden, am besten Rotwein aus der Region oder sogar aus eigener Herstellung. Obwohl hoher Alkoholkonsum vor allem in Kombination mit Rauchen das Leben um ca 17 Jahre verkürzt, stellt maßvolles Trinken kein Problem dar. Der Altersforscher Sven Voelpel, Autor des Buches Die Jungbrunnenformel formuliert seine Erkenntnisse zu Alkohol und Alter ganz pointiert: Zuerst sterben die Trinker, dann die Abstinenzler und dann diejenigen die das eine oder andere Mal ein Glas genießen.
Über Vorbilder, die uns vorleben, wie man ein hohes Alter erreichen kann, können wir dankbar sein, denn sie geben Lebenserfahrung weiter.
Im Januar durfte ich meine Lehrerin Paula Knopf nach über 40 Jahren wiedersehen und ihr zu ihrem 100. Geburtstag gratulieren. Infolge dieses außergewöhnlichen Jubiläums besuchte ich sie mit Johann Kerner, der auch die Glückwünsche im Namen der Landsmannschaft der Banater Schwaben überbrachte, in ihrer Wohnung in Neumarkt in der Oberpfalz.
Ein Treffen, das nicht nur angenehme Gefühle und positive Erinnerungen weckte, sondern uns auch die Gelegenheit zum ausführlichen Gespräch bot. Frau Knopf ließ uns an diesem Nachmittag an der Weisheit des Alters teilhaben. Die Frau, die mir einst nicht nur Lesen und Schreiben beigebracht hatte, sondern auch die Freude am Lernen, kann auch heute als Vorbild dienen. Wir erfuhren, dass sie sich im hohen Alter den Umgang mit ihrem Laptop beigebracht hat. Sie hat einen Streaming-Dienstleister abonniert, um informative Filme zu schauen. Doch nicht nur das Aneignen von neuen Techniken und Wissen zeichnet Frau Knopf aus. Ihre Klugheit und ihre Fähigkeit, sich auf das Gegenüber einzulassen, haben zur Folge, dass Bekannte und Freunde gerne mit ihr zusammen sind. Paula Tante, wie sie liebevoll genannt wird, kann zuhören und nimmt Anteil am Leben ihres persönlichen Umfelds.
Am häufigsten kommt Marianne, die Tochter einer ehemaligen Kollegin zu Besuch, die ich bei unserem Treffen auch kennenlernen durfte. Die beiden Frauen gehen dann gemeinsam die Zeitungen durch, die ADZ und die Banater Post und besprechen das Gelesene. Dabei geht es bei der Lektüre oft fröhlich zu. Im Gespräch mit Marianne erfuhr ich von dem geregelten Tagesablauf, den meine geschätzte Lehrerin noch seit der Zeit ihrer Berufstätigkeit beibehalten hat und ihrer Selbstdisziplin. Wenn manche Tätigkeiten doch anstrengend geworden sind, hilft eine positive und oft humorvolle Sicht der Dinge.
Irgendwann fiel das Stichwort Russland-Deportation. Frau Knopf erinnerte sich ohne Verbitterung. Ich hatte immer Zuversicht und die Hoffnung zurückzukehren, bekannte sie. Gemeinsam mit ihrer Schwester schaffte sie es schließlich, zurückzukehren nach Temeswar, zu den sich sorgenden Eltern.
Auf meine Frage, was sie uns jüngeren mit auf den Weg geben würde, nannte Paula Knopf das Stichwort Gelassenheit.
Man könne sich den Herausforderungen des Lebens mit Ruhe stellen, denn es gäbe eine Lösung für alle Probleme. Als Frau Knopf in unserer E-Mail Korrespondenz zustimmte, über unser Treffen zu schreiben, äußerte sie den Wunsch, als Mensch gesehen zu werden, der im Leben einfach viel Glück hatte. Das kann man nur bestätigen jedoch ergänzend feststellen: Es ist das Glück der Tüchtigen, fortuna bonis.
Worin besteht sie nun, die viel beschworene Jungbrunnenformel?
Eine positive Einstellung, gesunde Ernährung, häufige Alltagsbewegung, ein guter Ausgleich zwischen Aktivität und Entspannung und soziales Eingebundensein sind zweifellos Faktoren, die lebensverlängernd wirken. Im Übrigen folgt jeder Mensch diesbezüglich seinem eigenen persönlichen Pfad.
Ob wir wollen oder nicht, wir sind alle dem Prozess unterworfen, den man Altern nennt. Möglichst gut lange zu leben ist die Kunst. Für mich bedeutet es, jedes Lebensalter anzunehmen und das Beste daraus zu machen. Laufend Neues dazuzulernen und mich mit den Menschen auszutauschen. Nach vorne zu leben, doch das Leben von hinten zu verstehen. Werde, die du bist ist der Titel eines Buches, das ich schon in jungen Jahren las. Eine schöne Umschreibung einer Entwicklung, die mit dem Alter einhergeht. Und passend zu der Chimäre, die in uns allen angelegt ist.
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