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Eine Kastanie erzählt ... von einer Ausnahmepädagogin in Temeswar


Die junge Erzählerin im Stachelkleid der Kastanie

Manchmal reicht ein Duft um eine Erinnerung herauf zu beschwören, ein Song, ein Kleid oder ein bestimmtes Licht. Von Mensch zu Mensch verschieden sind es unterschiedliche Phänomene und Dinge, die unser Gedächtnis in eine bestimmte Richtung lenken.

Kastanien lassen meine Gedanken immer zu unserem ehemaligen Haus in Temeswar schweifen, das zur Straße hin von vier mächtigen Kastanienbäumen flankiert wurde deren Kronen sich beschirmend über das Dach erhoben. Pünktlich zum Schulbeginn am 15. September ließen sie jedes Jahr Unmengen ihrer Samen darauf herab prasseln. Die dumpfen Aufschläge, die man schon morgens bis ins Haus hörte, waren das Signal für mich hinaus zu laufen und die ganze herbstliche Pracht zu bewundern. Im Hof und auf der Straße lagen die von uns Kindern schon heiß ersehnten rotbraunen Kugeln und ihre stacheligen Hüllen. Es war Bastelmaterial zu einer Zeit, als wir wenig Spielsachen hatten und nicht wussten, was Lego oder Playmobil war. Nach der Schule konnte ich nicht schnell genug wieder unter die Kastanienbäume eilen, um die herabgefallenen Kastanien aufzusammeln.

Im Herbst 1975 war ich Schulkind geworden. Eltern und Großeltern hatten sich vorher sorgfältig über die deutschen Klassen in der Stadt informiert und sich schließlich für die Școala Generală Nr. 8 in der Josefstadt entschieden. Das Schulhaus gehörte zum Gebäudekomplex der ehemaligen Notre Dame Klosterschule, eine in Temeswar berühmte Institution, die schon meine beiden Großmütter besucht hatten. Dort sollte die bekannte und erfahrene Lehrerin Paula Knopf eine letzte Klasse vor ihrer Pensionierung übernehmen. Seit der Nachkriegszeit war Frau Knopf jahrelang als Übungsschullehrerin auch mit der Ausbildung von angehenden Pädagogen betraut gewesen. Sie unterrichtete nicht nur in der Josefstädter Grundschule, sondern arbeitete auch in der Fortbildung für Lehrkräfte und war als auswärtige Mitarbeiterin des Schulbuchverlags tätig. Der Ruf der Lehrerin Knopf war in Temeswar so hervorragend gewesen, dass meine Familie beschloss den weiten Schulweg, auf dem ich noch begleitet werden musste, in Kauf zu nehmen.

Es war eine gute Wahl! Die ersten drei Schuljahre waren für mich und wohl auch für meine 40 Mitschülerinnen und Mitschüler wunderbar. Souverän und mit großer Zuneigung pflanzte uns unsere “Genossin Lehrerin” die Liebe zu Wissen und Bildung ein. Paula Knopf war auf liebevolle weise streng. Das klingt wie ein Widerspruch, doch sie vereinte eine natürliche, durch große Erfahrung noch gewachsene Autorität mit einem heiteren Wohlwollen für uns Grundschüler. Durch ihre Handpuppe “Kasperle” kam ein lustiger Gehilfe in unsere Klasse, der immer wieder heitere Stimmung herstellte, in der sonst schon in der ersten Klasse von Konzentration geprägten Arbeitsatmosphäre.

Auch das Fundament für Toleranz und Mitmenschlichkeit wurde in diesen frühen Schuljahren gelegt. Frau Knopf stellte bereits an einem der ersten Schultage, nachdem sie wieder einmal morgens den Katalog vorgelesen hatte, klar: “Eure Namen sagen mir, dass ihr aus deutschen, rumänischen, ungarischen und jüdischen Familien kommt. Wir wollen hier alle gut miteinander auskommen und keiner ist aufgrund seiner Abstammung oder Nationalität besser als der andere!” Und wie gut wir uns verstanden! Eine so gute Klassengemeinschaft wie damals in Temeswar habe ich später nie wieder erlebt.

Wir lernten in diesem kollegialen Klima nicht nur gerne, sondern spornten uns gegenseitig in Leistung und Ideen an. Die hervorragenden Noten wurden in ein Büchlein eingetragen, rumänisch “carnet”, und den Eltern stolz jedesmal zur Unterschrift vorgelegt. Zwar reichte die Skala von eins bis zehn, doch die Meisten von uns bekamen kaum mal einen Neuner, so gut wurde der Stoff vermittelt.

Bei so viel Lerneifer und auch Talent hatte Frau Knopf in der dritten Klasse für uns Schüler einen Lesezirkel gegründet. So ergab sich die Möglichkeit nach Unterrichtsschluss in diesem Kreis an kindgerechte Literatur herangeführt zu werden. Unsere Lehrerin machte uns dort mit den Neuerscheinungen der rumäniendeutschen Kinderbücher vertraut. Das waren Werke von Hedi Hauser, Erika Hübner-Barth oder Rikarda Terschak. Vor allem deren Werk “Drei Kinder und ein Dackel” wurde der Kinderbuch-Bestseller der damaligen Jahre. Der freche Dackel “Tuppi” daraus war so beliebt wie Paddington Bär oder Winnie Puh in den heute noch bekannten Kinderbuch Klassiker. Als unsere "Geno Knopf", wie wir sie abgekürzt liebevoll statt Genossin genannt haben, nach der dritten Klasse pensioniert wurde, schenkte sie jedem von uns zum Abschied das Lesebuch “Das Rosenmädchen”. Auf die erste Seite schrieb sie mir als persönliche Widmung einen Spruch von Goethe:

“Es ist nicht genug zu wissen,

man muss auch anwenden,

es ist nicht genug zu wollen,

man muss auch tun.”

Damals konnte ich nicht viel damit anfangen. Erst später verstand ich, dass sie mich sehr gut einschätzte, meine Lehrerin. Sie erkannte als erste das Kind, dem alles nur so zuflog, das aber nicht ehrgeizig war.

Durch so gute Förderung fand ich bald Vergnügen daran, selbst Texte zu verfassen. In Schulaufsätzen konnte ich meiner damals schon überbordenden Fantasie freien Lauf lassen. Die gelungensten davon, alle mit der Note 10 im Notenheft bewertet, schrieb ich nochmal in ein Notizbuch, das mein eigenes Geschichtenbuch werden sollte. Dort finden sich z.B. Ausführungen über “Das Leben des Igels” oder die Beschreibungen “Unser Klassenzimmer” und “Mein Federkasten”. Dieses Büchlein ging mit auf die Reise, als ich die Schule anläßlich unserer Aussiedlung Mitte der fünften Klasse verlies.

Wie wohl das heute zerfledderte Büchlein die Jahrzehnte überdauert hat ohne ausgemistet und weggeworfen zu werden? WOLLTE ich es unbedingt aufheben um später etwas damit zu TUN? Wenn Ehrgeiz und Tatkraft erwachen, wie es mir Paula Knopf subtil ermahnend ins Stammbuch geschrieben hatte und ich all diese Erinnerungen verarbeiten würde?

Darin fand ich vor kurzem mein damaliges Meisterwerk, einen Aufsatz, ja eine Geschichte mit dem Titel “Eine Kastanie erzählt”. Die Idee als Erzählerin in das grüne Stachelkleid zu schlüpfen, die Perspektive meiner geliebten Kastanien einzunehmen und eine von ihnen zu werden, hatte mich so sehr beflügelt, dass ich für diesen Schulaufsatz die Note 10 mit Sternchen bekam.

Dieser Text ist auch ein Zeugnis davon, wie hervorragend die Schulausbildung in Temeswar noch Ende de 70er Jahre gewesen ist. Die Generation von Frau Knopf hat Wissen gesät, das wunderbare Früchte getragen hat und noch weiter trägt.

Lassen wir als Würdigung dieser wunderbaren Ausbildung die kleine Astrid als Ich-Erzählerin in der Rolle einer stacheligen Kastanie sprechen. Und dadurch zeigen, was die begnadete Lehrerin Paula Knopf einer Schülerin schon in der dritten Klasse beigebracht hatte.

Die Lehrerin Paula Knopf mit einigen Schülern meiner Klasse I-c beim Abschlussfest

Eine Kastanie erzählt


Ich wuchs auf einem großen schattigen Kastanienbaum. Doch das wußte ich nicht, denn ich steckte in einem grünen Stachelkleid. Dort war es dunkel und still und ich konnte weder etwas sehen noch hören. Da platzte eines Tages mein Kleid und ein heller Sonnenstrahl fiel mir ins Auge. Mein Baum stand vor einer Schule. Ich sah zum Fenster hinein und staunte: viele fleißige Kinder lernten lesen, schreiben und rechnen. Einige Kinder kamen zu spät. Gerade kam eines der Kinder unter unserem Baum vorbei. Es plauderte lustig mit seinem kleinen Bruder. Vor der Tür trennten sie sich. Ich dachte: wie schade das ich nicht unten liegen kann.

Ein Morgenwind strich durch die Kronen der Bäume. Auf einmal öffnete sich mein Kleid und ich fiel zur Erde. Wie viele Spielgenossen ich da hatte.


Wir plauderten. Ich erzählte was ich alles gesehen habe. Eine dicke Kastanie sagte: Bald ist es Nachmittag, dann kommen viele Kinder und sammeln uns. Einige Freunde von mir wurden gesammelt. Am Nachmittag kamen wirklich Schüler. Meine Freunde wurden gesammelt. Auch ich wurde von einem Mädchen in den Sack gesteckt. Ich freute mich sehr. Vor lauter Freude schlief ich ein. Als ich am anderen Morgen erwachte, befand ich mich in der Schule. Das Mädchen, das mich gesammelt hatte, machte aus mir und meinen Freunden ein lustiges Männlein. Dann trug sie mich nach Hause und stellte mich auf ihren Schreibtisch neben das Fenster. Von dort aus konnte ich hinausschauen und auch zuschauen wie das Mädchen ihre Aufgaben machte. Doch das dauerte nicht lang, denn bald wurde ich in eine Spielecke getragen. Dort waren noch viele Bastelarbeiten aus Kastanien und Eicheln. Ich plauderte sehr viel mit ihnen. Die Eicheln waren aus einem Mischwald gesammelt worden. Sie erzählten mir sehr viel über ihre Heimat.


Ich traf auch Kastanien von meinem Baum. Kastanien, die vor dem Baum beim Kaufhaus standen, berichteten sehr viel über die Stoffe und alle Ware die im Kaufhaus waren. Auch von den Menschen und Kindern die einkaufen gingen. Sie erzählten auch wie man mit ihnen Fußball spielte. Auch die Kastanien, die an dem Baum vor der Landstraße hingen, wussten viel zu erzählen. Sie erzählten über den regen Verkehr, über die schönen Blocks, die gebaut wurden und über die Fabriken, die sie gesehen hatten. Kastanien, deren Baum in einem Wald stand, erzählten über die wilden Tiere die dort lebten, über die Vögel die so schön sangen, über das Moos und über die Ausflügler die den Wald besuchten. Sie beschrieben uns wie schön das Leben in der Wildnis sei. Die Eicheln sagten: “Ja im Wald ist es sehr schön, doch auch gefährlich. Wir wären fast unter die Zähne eines Eichhörnchens geraten. Ein paar Freunde wurden gefressen.”


Unter fröhlichen und traurigen Erinnerungen verging der Tag wie im Flug und die Nacht rückte heran. Am anderen morgen wurden wir in die Schule getragen und das Mädchen bekam auf das Männchen, das es gemacht hatte, eine Zehn. Wieder zu Hause wurde ich ins Fenster gestellt, dass alle Leute mich und meine Freunde bewundern sollen. Im Winter als Anne, denn so hieß das Mädchen, einmal das Fenster aufmachte, tanzte eine Schneeflocke zu uns herein. Sie sagte: ach warum seid ihr nicht auch draußen, dort ist es so schön.” Dann flog sie hinaus. Wir überlegten ein Weilchen, dann sprangen wir hinaus. Brr war das kalt! Ich zitterte wie Espenlaub. Ein paar Stunden lagen wir draußen, da kamen auf einmal Anne und ihr Bruder. “Ei Anne”, sagte ihr Bruder Fritzchen, “ist das nicht das Männchen, das du gebastelt hast!” Anne schaute uns an, dann sagte sie: “Ja Fritzchen, das ist es. Aber wie ist es wohl aus dem Fenster gefallen?” Sie hoben uns auf und trugen uns in die Küche. Sie stellte uns ins Küchenfenster und lehnte uns hinter einen Blumentopf. Dann gingen sie Schlittenfahren. Vom Küchenfenster hatten wir eine wunderschöne Aussicht. Vor uns unter Schneekappen lag ein kleiner Park mit verschneiten Bänken und vielen jauchzenden Kindern. Wir nahmen uns vor nie mehr aus dem Fenster zu springen. In der Küche war es warm. Blau vor Kälte und ganz durchnässt kamen die Kinder heim. Ihre Oma hatte ihnen einen heißen Tee gekocht und fragte sie wie es draußen war.


Am nächsten morgen schien die Sonne. Das neue Trimester hatte begonnen. Das erkannte ich, weil ich sah, dass Anne sich den Ranzen auf den Rücken schnallte. An einem Morgen sagte Anne zu ihrer Mutter: “Du bist zu einem Schulfest eingeladen, bitte komme!”

An einem Sonntagmorgen wurde ich in die Schule getragen. Ich wußte nicht warum. Dort angekommen fiel mir etwas ein. Ah, das Schulfest war es! Ich wurde ausgestellt. Annes Lehrerin sagte mit lauter Stimme: “Und nun zeigen wir euch die lustigen Sachen, die wir voriges Jahr in unserem Bastelzirkel gebastelt haben. ”Ich wurde mit anderen Sachen zusammen von Hand zu Hand gegeben und bewundert. Als ich bei Fritzchen ankam spürte ich, das ich gepackt und in die Tasche gesteckt wurde. Als die Vorstellung fertig war gingen wir nach Hause. Einmal sagte Oma: “Ach dieses Kastanienmännchen, das Anne gemacht hat, brauchen wir doch nicht mehr! Ich schmeiße es auf den Mist!” Ich wurde hinausgetragen und als das Mistauto kam, wurde ich hineingeschmissen. Im Mistauto war es dunkel. Es roch auch unangenehm. Doch nach einer ziemlich kurzen Fahrt kamen wir an. Ich wurde zusammen mit anderem Mist ausgeleert. Weil ich ziemlich schwer war, rollte ich stark auf die Seite. Auch bekam ich noch einen Stoß von dem Fahrer. Jetzt rollte ich bis an den Rand eines kleinen Wäldchens und landete am Stamm einer großen dicken Kastanie. Dort hatte ich Ruhe und war doch nicht einsam, denn jeden morgen gingen verschiedene Tiere an mir vorbei. Im Herbst fallen sogar andere Kastanien herunter und bitten mich ihnen meine Abenteuer zu erzählen und das tue ich sehr gern. Nun reiste ich nicht mehr weiter, denn ich hatte das viele Reisen satt.


Doppelseite aus dem Notizbuch mit dem handschriftlichen Text

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