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Greife wacker nach der Sünde…

oder: Die Faszination der Kirschen in Nachbars Garten

Die Autorin bevorzugt inzwischen die Kirschen aus dem eigenen Garten…

Der kindliche Blickwinkel auf das Leben in Rumänien zu Zeiten der Ceauşescu-Diktatur unterscheidet sich sehr von dem der Erwachsenen, da uns Verfolgung, Bespitzelung und die Mühen des Alltags weitgehend erspart geblieben sind. Deshalb erlebten viele, die in den 70er Jahren aufwuchsen eine unbeschwerte Kindheit. 


Obwohl wir im Vergleich zu heute streng erzogen wurden, ließ man die autoritäre Erwachsenenwelt auf dem Weg zu den Spielkameraden mit dem Schließen der Haustür hinter sich und wandte sich der absoluten Freiheit in Hof, Garten, Feld und Wiese zu. Diese Erfahrung machte ich besonders intensiv in den Ferien auf dem Dorf. 


Wir fuhren jedes Jahr zu Beginn der Sommerferien zu den Verwandten nach Paulisch, ich träumte in den letzten Tagen des Schuljahres noch in der Bank mit offenen Augen davon, barfuß die “Neipaulischer Strooß” entlang zu laufen zu Freundinnen und Freunden, Cousins und Cousinen. Im Gedächtnis hatte ich schon die unterschiedlichen Pflasterungen des schmalen Gehwegs entlang der erhöhten Straße, die im Dorf “Damm” genannt wurde. Die Häuser, in denen Kinder in meinem Alter wohnten, waren mir natürlich auch bekannt. 


Wenn ich dann endlich in Paulisch in den Sommerferien war, die in Rumänien von Mitte Juni bis Mitte September drei Monate lang dauerten, spielte sich mein Leben bis auf die Stunden, in denen ich aß oder schlief ausschließlich draußen ab. Schon morgens nach dem Aufstehen schlüpfte ich in Hängerkleid oder kurze Hose, schlang hastig ein Butterbrot hinunter und lief schnell hinaus, um Spielkameraden zu suchen. Obwohl unser Hof groß genug war und ich ausreichend Platz zum Spielen und Toben gehabt hätte, zog es mich immer zu den Anwesen und Gärten der Nachbarskinder, in denen es meiner Meinung nach noch schöner war.


Am nächsten von unserem gegenüber der Kirche gelegenen Domizil wohnte Lavinia, ich musste nur schräg über die Straße. Wie ich war sie nur in den Ferien da, also traf man sie nicht immer an. Doch wenn man die “Strooß” bzw. den “Damm” Richtung Friedhof entlang lief, gab es auch Lotte, Erika, Anni oder die fröhliche Irene und ihre ältere Schwester Brigitte, vor der wir Jüngeren gehörig Respekt hatten. Ich fand also schnell Gleichgesinnte, die ebenso froh waren wie ich, endlich den Zwängen von Schule und Erwachsenenwelt entkommen zu sein. Wir Mädchen hockten oft lange zusammen im offenen Hausgang, den damals die schwäbischen Häuser in Paulisch hatten. Auf der Straße spielten wir alle zusammen ein seltsames, mir aus der Stadt nicht bekanntes Spiel namens "Hulli" (Habicht) und "Tauwa" (Tauben) Darin war einer der “Hulli”, der versuchte die anderen Kinder, die "Tauwa" zu fangen. Die Tauben wiederum versuchten sich immer gestört durch den Habicht, Nester aus Moos, Steinen und Stöckchen zu bauen. Wenn das gelang und man in den eigenen Unterschlupf hüpfte, war man in Sicherheit, wen der Habicht aber erwischte, musste in der nächsten Runde selber der Raubvogel sein.


Der einzige Junge im Kreis der Paulischer “Schwowekinner” war Jürgen, der wie ein kleiner Anarchist sich wenig um die Ansagen oder Verbote der Eltern und Großeltern scherte und damit für mich äußerst interessant war. Die von Wedekind im Prolog des Erdgeists formulierte Maxime -

Greife wacker nach der Sünde;

Aus der Sünde wächst Genuß.

Ach, du gleichest einem Kinde,

Dem man alles zeigen muß.

- kannten wir damals noch nicht. Doch wir handelten spielerisch oft danach.


Blick vom Berg auf die “Neupaulischer Strooß”

Deshalb brachten mich die Streiche mit Jürgen regelmäßig in Schwierigkeiten. Wir hockten oft versteckt in der “Woli”, dem Entwässerungsgraben, der vom Weinberg kam und hinter den Gärten der Leute entlang führte. Nach heftigen Regenfällen verwandelte sich dort die gelbe Erde, die vom Berg hinabgeschwemmt wurde in glitschig-klebrigen Lehm. Daraus formten wir sogenannte "Kukawamma", hohle Kugeln, die geknetet wurden, um sie möglichst geräuschvoll auf den Weg oder auf frisch “geweiselte” Hauswände zu werfen. Der Name war rätselhaft, denn der Aufprall hörte sich eher an wie ein “plopp” und nicht wie “wamm”. Also sollte es eher “Kukkaploppa” heißen, fand ich. Doch das Spiel mit dem unverstandenen Namen gehörte mit zum Besten, was die Ferien in Paulisch zu bieten hatten. Völlig verdreckt kamen wir abends heim und wurden direkt in den “Lavor” gesteckt, um sauber geschrubbt zu werden. 


Trotz der Standardermahnung meiner Großmutter - “brav sein” - wenn ich das Haus verlies, ergriff ich jedes Mal bereitwillig die Gelegenheit mit Jürgen “Buwastickl” anzustellen. 


Eines Tages im Juni, kurz nach Ferienbeginn, stand er vor dem Tor und holte mich ab, um "uf’n Berig Kirscha stehle" zu gehen. Warum das nötig war, wenn wir zu der Zeit doch alle die schönsten Kirschen im Garten hatten, verkniff ich mir zu fragen, denn ich war sofort Feuer und Flamme. Wir liefen über die Landstraße zum Weinberg, was an sich schon verboten war. Hinter der alten Schule stiegen wir ein paar Meter zu den dortigen Obstbäumen hoch. Wir wollten gerade auf einen der Kirschbäume klettern und Jürgen, der etwas größer war, hing schon an einem der Äste, als plötzlich die Hunde des Schäfers, der seine Herde dort weidete, große zottelige Tiere, bellend auf uns zuliefen. Obwohl ich sonst keine Angst vor Hunden hatte, fühlte ich Panik in mir aufsteigen. Instinktiv spürte ich, dass diese Exemplare anders drauf waren als unser netter Hofhund Fritz. 

Da hieß es für uns dann natürlich Reißaus nehmen. “Nix wie weg!” rief ich Jürgen zu, der erst vom Ast, auf dem er hing, runter springen musste. Das verschaffte mir einen gewissen Vorsprung. Weil es ja bekanntlich heißt, dass den letzten die Hunde beißen, rannte ich wie um mein Leben, um schneller zu sein als Jürgen, der hinter mir laut, sicherheitshalber gleich zweisprachig "Tollwei" und "ajutor" rief, so schallend, dass fast die ganze “Neipaulischer Strooß” unter uns ihn hören konnte. Die Hunde erwischten  zum Glück weder ihn noch mich, dafür aber mein Großvater, der uns von der Nachbarin alarmiert entgegen geeilt war und uns an der Landstraße wenig erfreut erwartete. “Es hätte nicht viel gefehlt und die Hunde hätten euch gebissen” rief er außer Atem “oder ihr hättet vor ein Auto laufen können…!” Man sah meinem Großvater an, dass auch er gehörig erschrocken war. Mich packte er am Arm und Jürgen schickte er nach Hause mit dem Hinweis, dass seine Mutter schon auf ihn warten würde.


In der Küche angekommen musste ich in der Ecke stehen und über meinen Leichtsinn nachdenken. Das war eine zu der Zeit weit verbreitete Erziehungsmaßnahme, deren Steigerung das ”in der Ecke Knien” und das “auf Nussschalen Knien” ich zum Glück nie erlebt hatte. Während ich also Gott sei Dank stehen durfte und die Blumenmuster der Wand betrachtete, sinnierte ich darüber, was ich getan hatte. Statt einfach zum Kirschbaum in den eigenen Garten zu gehen und normal Kirschen zu pflücken, hatte uns das Verbotene gereizt, das Abenteuer. Die Kirschen im fremden Weingarten stellten wir uns süßer, saftiger und reifer vor. Trotz des durchlittenen Schreckens, angesichts der Gefahr und der Beschämung bestraft worden zu sein, machte sich in mir ein Gefühl der Zufriedenheit breit, als hätte ich das vollmundige Aroma der verbotenen Früchte geschmeckt.


…auch wenn man sich mit Weniger begnügen muß

1 Comment


Guest
Jun 12

Welch schöne Kindheitserinnerungen! Danke.

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