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Atze, Katze, kritzekratze

Durch die staade Zeit mit IDA



Alltägliche Dinge, die man für selbstverständlich erachtet, schätzt man oft nicht gebührend. Demgegenüber wird Zeit, die ausschließlich der Festigung von Beziehungen dient, und die wir an besonderen Tagen von ganzem Herzen für Gefühlsbindungen aufwenden, neudeutsch als quality time bezeichnet und als sehr kostbar erachtet. Herzenszeit würde ich die Stunden nennen, die ich heuer in der Vorweihnachtszeit mit Ida verbringe. 


In Bayern wird die Adventszeit bekanntlich staade Zeit genannt und ich versuche das auch ernst zu nehmen. Manchmal ist weniger mehr. Gerade vor Weihnachten ziehe ich mich zurück, versuche Hektik und Stress zu meiden, Lärm, gleißendes Blinklicht und üppiges Essen. Allzu oft wird man in der vorweihnachtlichen Zeit mit Reizen überflutet, so dass das Fest selbst seine Besonderheit verliert. Deshalb schalte ich ein paar Gänge runter und genieße die Ruhe zu Hause. 


Für ein paar wunderbare Tage ist Ida in dieser besinnlichen Vorweihnachtszeit mit ihren Eltern bei uns. Daher darf ich sie betreuen und mit ihr spielen, spazieren gehen, gemeinsame Mahlzeiten zubereiten und Gespräche führen. Ja, durchaus auch sprechen, denn die Eindreivierteljährige erweitert gerade rasend schnell ihren Wortschatz. Sie nennt vor allem Menschen und Tiere beim Namen, die sie bei uns auch real erleben kann. Da sind Hunde, Katzen und Gänse live und lebendig dabei. Hunde werden von Ida nach ihren Lautäußerungen Wauwau genannt, die Gänse Gaga. Soweit so klar. Unsere beiden Miezen nennt sie dagegen sehr korrekt Katze, also beim Namen. 


Als Ida heute morgen zu mir gebracht wurde, haben wir uns darauf verständigt, dass Mama und Papa in die Stadt ausgehen dürfen. Währenddessen machen wir es uns im Wohnzimmer gemütlich, kochen etwas schmackhaftes (lecker), das wir dann hamham aufessen, wonach wir uns alte Bilderbücher aus Vickys Zimmer holen und gemeinsam ansehen. 

Zuerst machen wir an diesem frostigen Morgen, an dem der Rauhreif im Garten glitzerte, zusammen im Schwedenofen ein Feuer. Ich schlichte die Holzscheite auf, Ida zerreißt und zerknüllt hingebungsvoll die Zeitung, die wir dann unter das Kleinholz stecken und anzünden. Im Nu steigen die Flammen empor und als das Feuer prasselt, zeigt Ida darauf und sagt heiß. Mir wird klar, dass sie schon weis, dass man sich daran verbrennen kann und nicht an die Ofentür fassen soll. 


Flugs verging der Vormittag! Die Kleine stand sehr lang an der Weihnachtspyramide, an der sie die Figuren einer gründlichen Begutachtung unterzog. Um Maria und Josef, (Mamma, Pappa) drehen sich Hirten, mit Lasten beladene Kamele und zahlreiche Schafe. Während ich in der Küche schnell die Dinge für das Mittagessen heraus suchte, befreite Ida die Kamele von den Päckchen, nimmt bzw. brach Josef die Laterne aus der Hand und warf die Schafe kurzerhand um. Erst nachdem sie wegen "Aua" vom "Arzt" geheilt waren, wurden sie wieder aufgestellt. Als ich die so in die Mangel genommenen Figuren entdeckte, bat ich Ida mir doch lieber beim Kochen zu helfen. In der Küche entpuppte sie sich als aufmerksame Gehilfin, die die Soße probierte und abschmeckte und die Nudeln in den Topf warf.  

Das so gemeinsam zubereitete Mittagessen war schnell verzehrt, sodass wir zur Mittagsruhe übergehen konnten, zu der die gemeinsame Lektüre gehört. Heute stand ein Bilderbuch auf dem Programm, das Ich bin die kleine Katze heißt und das ich vor vielen Jahren schon meinen Kindern vorgelesen hatte. Ida war begeistert, konnte sie doch den Namen schon aussprechen. Katze sagte sie immer wieder, wenn sie die Bilder sah Katzekatzekatze.


Außerdem kann Ida auf den Bildern schon viele andere Gegenstände benennen und sie spricht die Worte korrekt und deutlich. Eier, Apfel, Hase, sogar Ball, Banane und Schuhe. Auf einem Bild im Buch schärft die Katze ihre Krallen an einem Baum. Ich zeige ihr, was damit gemeint ist und wie die Katze Kritzekratze macht. Die Kleine versteht sofort und kratzt mit ihren Fingernägeln über das Bild. 

Es ist schön mitzubekommen, wie sich ein Kind entwickelt. In der Stille der häuslichen Umgebung können wir gut aufeinander eingehen und ich merke, dass unsere Jüngste schon ein eigenes Bewusstsein für sich und ihre Umgebung entwickelt hat. Zu ihrer Tasche sagt sie meins, deutet auf sich und nennt sich Iga. Das gutturale G ist wohl noch leichter auszusprechen, doch es ist unverkennbar ihr eigener Name. 


Seit einiger Zeit schon sagt sie zu mir Atse! Der Name Astrid ist für sie wohl noch zu kompliziert, um ihn richtig auszusprechen. Ihre Eltern amüsierten sich über diese Verdrehung, die für sie keinen Sinn ergab. Mir gefällt, wie sie mich nennt, jedoch sehr gut, denn damit bringe ich etwas aus meiner eigenen Kindheit in Verbindung. Atze hieß eine Jugendzeitschrift aus der DDR, die meine Mutter mir in den siebziger Jahren in Temeswar manchmal vom Kiosk der Universität, an der sie arbeitete, mitgebracht hatte. Die Kioskfrau, mit der meine Mutter bekannt war, verständigte sie immer, wenn sie eine solch begehrte Lieferung bekommen hatte und meine Mama war die erste Käuferin. Da es für Kinder damals kaum Zeitschriften gab und schon gar keine mit Bildern, war es für mich jedes Mal etwas Besonderes und ich freute mich unbändig. Auch wenn Atze eine Publikation der FDJ war, das einzige Comicmagazin im klassischen Sinn in der DDR, ich freute mich mangels Alternative über die Lektüre. An die Inhalte kann ich mich heute nicht mehr erinnern, wohl aber an den frechen Berliner Jungen Atze, den Helden des Comics. Und natürlich an die Freude das Heft in den Händen zu halten und mit dem druckfrischen Geruch in der Nase   darin zu blättern. 


Es war noch die Zeit, bevor ich mit den wunderbaren Geschichten von Astrid Lindgren in Berührung gekommen war und Lotta aus der Krachmacherstraße, die Kinder aus Bullerbü, Michel aus Lönneberga und seine Schwester Ida alles bis dahin gekannte in den Schatten stellte. Meine Kinder wurden schließlich auch von den Büchern Astrid Lindgrens geprägt, nicht zuletzt daher hat Ida ihren Namen.


Also bin ich erstmal gerne Atse, um irgendwann hoffentlich zu Astrid zu avancieren. Dann kann ich bald auch meiner Enkeltochter die Bücher meiner berühmten Namensvetterin vorlesen. In der Adventszeit dann unbedingt die Geschichten Weihnachten im Stall und Weihnachten in Bullerbü. Bis dahin soll sie das bekommen, was meine eigene Kindheit im Banat nicht weniger glücklich gemacht hat als die der Kinder aus Bullerbü: eine Stube mit prasselndem Feuer, liebevoll selbst gekochtes Essen, Sachen zum Spielen, die Raum für Phantasie lassen, gemeinsame Lektüre und Geborgenheit in der Familie. Kurz gesagt, viel Herzenszeit, wenn wir zusammen sind.

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