Manchmal spiele ich, wenn ich Lust habe meine Gedanken schweifen zu lassen, ein kleines Spiel. Es heißt Was wäre, wenn…?
Spielend kann man sich auf leichte und amüsante Weise eine andere Realität vorstellen. Oft bringt Spielen einen ohne einen Zweck zu verfolgen weiter, verschafft neuen ethischen Erkenntnisgewinn und soziale Kompetenzen.
Annäherung über Fragen war schon für die Philosophen, vor allem für Immanuel Kant, eine beliebte Methode. Seine vier Fragen, was kann ich wissen, was soll ich tun, was darf ich hoffen, was ist der Mensch, wirft der große Philosoph in seinen Vorlesungen über Logik auf.
Als Kind stellte ich mir manchmal vor: Was wäre, wenn ich ein Junge geworden wäre? Meine Mutter war bis zu meiner Geburt fest davon überzeugt gewesen, dass sie einen Sohn bekommen würde. Das prophezeiten die alten Frauen, die es ihr einredeten, nachdem sie ihren Bauch begutachtet hatten, der angeblich spitz war. Sogar der Arzt, der sie entbinden sollte, war sich, warum auch immer, sicher, dass sie einen Jungen erwartete. Als ich dann das Licht der Welt und er mich erblickte, rief er meiner Mutter vom Fußende des Bettes überrascht zu: Oh, es ist ein Mädchen!
In der Kindheit lag dieses Gedankenspiel also auf der Hand, war aber nicht besonders ergiebig. In meiner Familie wäre ich als Junge nicht anders großgezogen worden. Wie die zahlreichen Buben mit denen ich in Temeswar spielte, durfte ich klettern, rennen, springen, Ski und Schlittschuh Laufen lernen. Ich trug wann immer es ging Hosen und lange Zeit auch kurzgeschnittene Haare.
In Deutschland, wohin ich gebracht wurde, um eine bessere Zukunft zu haben, standen mir alle Wege zur umfassenden Bildung offen. Was Schule, Studium und Erfahrungen betraf, war ich im Großen und Ganzen dem jungen Mann gleichgestellt, der ich gewesen hätte sein können.
Das änderte sich schlagartig, nachdem ich meine Kinder zur Welt gebracht hatte. Die Mutterrolle, die ich mir gewünscht hatte und die mich von Anfang an glücklich machte, veränderte mein Leben komplett. Die neuen Herausforderungen der Kindererziehung und Haushaltsführung mussten mit Studium und Beruf in Einklang gebracht werden. Wäre ich damals als Sohn und nicht als Tochter geboren worden, ich hätte es sicher leichter gehabt.
Seit mit dem Heranwachsen meines jüngsten Kindes neue Energien frei werden, nutze ich sie um mich verstärkt meiner Herkunftsregion Banat zuzuwenden. Vor allem Temeswar übt eine magische Anziehung auf mich aus, mit der Fülle von noch zu entdeckenden Dingen.
Als ich bei meinem letzten Aufenthalt in der Stadt an der Bega für den literarischen Spaziergang recherchierte, kam mir mein Phantasiespiel wieder in den Sinn. Auf der Suche nach Autorinnen und Autoren bemühte ich meine Vorstellungskraft folgendermaßen: Was wäre wenn auch ich vor dem ersten Weltkrieg im Lloyd verkehrt wäre? Welche berühmten Persönlichkeiten hätte ich dort getroffen? Im Scudierpark hoffte ich eine Antwort darauf zu finden. Denn neben alten Bäumen und schönen Blumen gibt es dort auch die Allee der Persönlichkeiten mit Banatbezug, die zum Innehalten und Nachdenken einlädt. Im Vorbeischlendern an den Büsten aus Bronze las ich die angebrachten Schilder und überlegte, ob mir die Namen etwas sagen. Die Schilder zeigen, dass die Berühmtheiten, die dort in Reih und Glied stehen, aus verschiedenen Ethnien oder Bevölkerungsgruppen rekrutiert wurden. Aufrecht fast wie Soldaten stehen sie da, die Persönlichkeiten. Ich hatte das Gefühl, dass ich im Vorbeigehen eine Parade abnahm. Să trăiți hörte ich im Geiste, ein Gruß, den ich noch aus meiner Kindheit im Kommunismus kenne. Am liebsten hätte ich der Phalanx der Bedeutenden zugerufen, dass sie sich entspannen können. Denn manche kamen mir wie alte Bekannte vor.
Im Rahmen meiner Beschäftigung mit der Geschichte Temeswars hatte ich mich näher mit ihnen befasst. Der Älteste unter ihnen ist der mittelalterliche König Ungarns, Karl Robert von Anjou, der Temeswar zu seiner Residenzstadt gemacht hatte. Die bekannteste Persönlichkeit für uns Deutsche ist wohl der Feldherr und Eroberer Eugen von Savoyen, dessen enger Freund und Mitstreiter, Graf Mercy, seinen Platz gleich neben ihm bekommen hat. Es sind mit Bela Bartok auch Musiker vertreten oder Professoren. Und auch die gesuchten Literaten habe ich schließlich gefunden, wie zum Beispiel den Schriftsteller Anghel Dumbrăveanu. Viele der berühmten Temeswarer waren mir unbekannt gewesen und so googelte ich auch die ein oder andere Personalie.
Als die Reihen im ersten Vorübergehen abgeschritten waren, kam mir etwas seltsam vor: mir war keine Frau aufgefallen. Konnte es sein, dass ich die weiblichen Persönlichkeiten übersehen oder verwechselt habe? Als ich nochmal herum ging und bei den ehrbaren Herrschaften gezielt nach weiblich aussehenden Frisuren suchte, fand ich zwar Perücken und lange Haare, doch keine Damen und mir wurde plötzlich klar: In der Allee der Persönlichkeiten in Temeswar stehen nur Männer.
Zur Einordnung, frei nach der Kant'schen Frage: was kann ich wissen, könnte man eine andere, ältere Sammlung von berühmten Persönlichkeiten zum Vergleich heranziehen. Der bayerische König Ludwig der I. hatte schon vor fast 200 Jahren die Idee gehabt, die bedeutendsten Persönlichkeiten seines Königreichs zu ehren. Er ließ von seinem Lieblingsarchitekten Friedrich von Gärtner die Ruhmeshalle über der Theresienwiese bauen. In diesen Tempel der Berühmtheiten kamen die Büsten von 74 bedeutenden Landessöhnen. Die Frauen wollte der König damals lieber in seiner Schönheitengalerie in Nymphenburg sehen als in der Ruhmeshalle. Um dafür vom Hofmaler Joseph Stieler gemalt zu werden, reichte es gut auszusehen oder eine Liaison mit dem König gehabt zu haben. Oder beides. Da sich die Zeiten selbst im konservativen Bayern seit damals aber geändert haben, ließ die Stadt München im Jahr 2002 nachrüsten und erweiterte die Auswahl des 19. Jahrhunderts um die Büsten zweier bekannter bayerischer Frauen. Die Schriftstellerin Lena Christ und die Schauspielerin Clara Ziegler zogen im Jahr 2000 zu den Herren in die hohe Halle ein. Im Jahr 2009 folgte als dritte im Bunde die Wissenschaftlerin Prinzessin Therese von Bayern.
Im gleichen Jahr war auch die Allee der Persönlichkeiten Temeswars entstanden. Jedoch offenbar mit Denkmälern ausschließlich für Männer. Der derzeitige Bürgermeister Dominik Fritz wurde vor kurzem scharf dafür kritisiert, dass die Kommission, die für die Neubenennung von Straßen zuständig ist, nicht mit allen in der Stadt vertretenen Ethnien besetzt wurde. Deshalb drängt sich die Frage förmlich auf: Wie war das unter seinem Vorgänger damals bei der Planung für die Denkmäler des Scudierparks gewesen?
Der Philosoph Kant fragt was soll ich tun und ich kann in diesem Zusammenhang nur darauf hinweisen, dass Temeswar natürlich zahlreiche weibliche Persönlichkeiten vorzuweisen hat. Frauen, die im Lauf der Zeit das soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben der Stadt geprägt haben. Eine der herausragenden Persönlichkeiten der Stadt ist Schwester Hildegardis Wulff. Die Äbtissin der Benediktinerinnen der heiligen Lioba war Gründerin eines Krankenhauses, eines Waisenhauses und zahlreicher Frauenvereine. In ihrer medizinischen und karitativen Arbeit vollbrachte sie außerordentliche Leistungen in Temeswar und im ganzen Banat. Andere Frauen haben Schulen gegründet, wie zum Beispiel Sofia Imbroane und Emilia Lungu-Puhallo. Oder Goldmedaillen gewonnen wie Iolanda Balaş. Natürlich hat Temeswar auch Literatinnen vorzuweisen. Im Lauf meiner Nachforschungen zum Stadtspaziergang bin ich auf die Lyrikerin Erika Scharf gestoßen. Mit Herta Müller, die jahrelang in der Stadt gelebt und geschrieben hat, hätte Temeswar sogar eine Nobelpreisträgerin vorzuweisen.
Was darf man also hoffen?
Um das herauszubekommen, lasst uns einmal zusammen spielen. Was wäre, wenn in der Allee der Persönlichkeiten in Temeswar nur Büsten von Frauen stehen würden? Von Hildegardis Wulff, Iolanda Balaş, Sofia Imbroane, Emilia Lungu Puhallo, Herta Müller und vielen anderen, die in Temeswar gewirkt und sich um ihre Stadt verdient gemacht haben.
Würde da nicht etwas fehlen?
Die Antwort darauf ist gleichzeitig auch die Antwort auf die Frage, was ist der Mensch.
Der Mensch, das sind Frauen UND Männer. Vielleicht öffnen die männlichen Persönlichkeiten in der Allee im Scudier Park in Temeswar ja ihre Reihen.
Comments